Die Kunstgeschichte Afghanistans VI
Bamiyan als bedeutendstes Zentrum der Ghandara-Kunst
Das bedeutendste Zentrum war Bamiyan im
Innern des Landes mit den Höhlenkomplexen von Kakrak und
Fuladi. In Bamiyan kreuzten sich wichtige Handelswege, die von
Herat, von Balkh und von Transoxanien südwärts führten. Dort
entstanden neben zahlreichen Höhlen zwei große Buddhabilder,
die in die Felswände des Bamiyantals eingehauen wurden. Im
Osten davon steht die 35 Meter, im Westen sie 53 Meter
hohe Buddha-Statue, wobei letztere bis heute die größte
Statue der Welt ist. Beide befinden sich an einer
parabelförmigen Nische, deren Wände einst ganz mit
Wandmalereien bedeckt waren. Der größte Teil davon ist aber von
Ikonoklasten zerstört worden.
Abb. 21: Bamiyan, 5.-7. Jh. Die 53 m große Statue des Buddha ist in die westliche Felswand des Tals gehauen, aus Ton und Stuck modelliert und war ursprünglich bemalt. Eine photogrammetrische Aufnahme aus dem Jahr 1970 gibt die Höhe der Statue mit 53,5 m an; Foto: G. Djelani Davary
Nach dem streng klassischen Stil der Kleidung zu
urteilen, könnten die Statuen etwa im 2. oder 3. Jahrhundert
entstanden sein, während die Wandmalereien, die Einflüsse der
indischen, sassanidischen und der Gandhara-Kunst zeigen, wohl
aus dem späten 6. oder 7. Jahrhundert datieren. Andere Studien
weisen aber den größten Buddha im Zusammenhang mit den
Malereien der Felsnischen dem 5. oder 7. Jahrhundert zu
(Abb. 21).
Die Lokottaravadin-Sekte
Die Gemeinschaft von Bamiyan gehörte
zur Lokottaravadin-Sekte. Es ist eine in diesem Land
entstandene Sekte, die als eine Übergangsform zur
vollentwickelten Mahayana-Lehre Buddha eine überirdische Natur
zuerkannte. De Buddha-Statue, die Wandmalereien und die
unzähligen aus den Felsen gehauenen Höhlen sollten im
Zusammenhang mit dieser Lehre gesehen werden. Der Sinn der
Kolossalbilder von Buddha war es, ihn über das Maß des
gewöhnlichen Sterblichen hinaus als Mahapurusa, als
Verkörperung des Kosmos darzustellen. Die zahllosen Bilder von
Buddha, Bodhisattvas und anderen angebeteten Gottheiten, die
früher über die ganzen Flächen der Nischen zu sehen waren, sind
als die vielfältigen Emanationen des kosmischen Buddha zu
deuten. Mit anderen Worten, der gesamte Nischenkomplex bildete
eine Art Mandala aus Skulptur und Malerei. Alle gemalten
Dekorationen zeigen, wie bereits erwähnt, eine Mischform aus
den Kunstrichtungen verschiedener Regionen, die schließlich
provinziell wurde (Abb.
22).
Abb. 22: Kakrak, 5.-7. Jh. Das Deckengemälde aus einer Höhlenkapelle zeigt ein Mandala, in dessen Mitte sich ein sitzender Buddha in einem Kreis befindet, welcher von kleineren Buddha-Figuren in regenbogenfarbenen Aureolen umgeben ist; Foto: G. Djelani Davary
Diese Malerei bildete die Grundlage der in Zentralasien
entstandenen buddhistischen Freskenmalerei. Mit dem iranischen
Stil von Bamiyan ist das große beschädigte Wandgemälde
"Dokhtar-i Nuschirwan" in Rui, etwa 30 Kilometer nördlich von
Bamiyan, und das von Gurziwan in der Provinz Juzjan verwandt.
Beide sind nicht-buddhistische Malereien der sassanidischen
Zeit und stellen lokale, vielleicht hephthalitische Fürsten
dar.
Die Funde in einem Kloster in Fundukistan, das im
Ghorband-Tal unterhalb des Schibar-Passes liegt, lassen den
Stil von Bamiyan erkennen und stammen aus der späten Phase der
hephthalitischen Herrschaft. Bamiyan, Fundukistan, Surkh-Kotal
und Baktrien standen also mit den Kunsstätten nördlich des Oxus
in Verbindung, während das Gebiet südlich von Kabul zum
Khyber-Paß hin im Einflußbereich der Kunst Gandharas lag. In
dieser Region entstanden auch zahlriche buddhistische Stupas
und einige Minarette, wobei die letzteren - von denen nur noch
eines erhalten geblieben ist - buddhistische Kultsäulen sind.
Während Bamiyan im 7. Jahrhundert, als der chinesische Pilger
Hsüan-tsang die Gegend besuchte, in voller Blüte stand, befand
sich Hadda nach seiner Beschreibung bereits in einer
Niedergangsphase, die einer Wirtschaftskrise folgte. Die zweite
Phase der Kunst Gandharas in Hadda dauerte nur noch eine kurze
Zeit.
Quelle: G. Djelani Davary, ibid., S. 55-57