Portugiesisch-Asiatische Begegnung
Als die Welt Portugal entdeckte: Zehn Jahre portugiesisch-asiatischer Begegnung 1498-1508
Sanjay Subrahmanyam
Historiker sehen sich bei ihrer Arbeit zu fast jedem Thema nolens volens mit dem heiklen Problem eines „Gleichgewichts des Unwissens“ (balance of ignorance) konfrontiert. Dies ist vor allem bei Themen der Fall, die mehr als 500 Jahre in die Geschichte zurückführen. Einerseits wussten die historischen Akteure, um die es geht, ohne Zweifel viele Dinge, die wir heute nicht wissen und in der Tat nicht wissen können; andererseits profitiert der Historiker von seiner nachträglichen Sicht auf die Geschehnisse und von seiner Forschungstätigkeit. Er kann daher Dinge erfahren, über die der historische Akteur im Dunkeln tappte. Dieses Problem wiegt deshalb besonders schwer, weil es uns häufig darum geht, die Motive für bestimmte Handlungen zu erkennen. Diese aber sind aufgrund der gerade beschriebenen asymmetrischen Situation nur schwer zu rekonstruieren.
Die Probleme, vor die uns die Geschichte der ersten zehn Jahre der portugiesischen Präsenz im Indischen Ozean, von 1498 bis 1508, stellt, können meines Erachtens heute in einem neuen Licht betrachtet werden, wenn man über dieses „Gleichgewicht des Unwissens“ zwischen uns, den Historikern im frühen 21. Jahrhundert, und einer Vielzahl von Akteuren, sowohl Portugiesen als auch anderen Protagonisten jener Zeit, nachdenkt. Dieses Gleichgewicht betrifft sowohl die Aspekte, die unter dem Oberbegriff „lnformation“ (bzw. den Objekten des Verbs conhecer, kennen, kennenlernen) verstanden werden können, und, vielleicht noch gravierender, diejenigen, die als „Wissen“ (saber) aufzufassen sind.Wie man sich in Portugal um 1500 Asien vorstellte
Dieses Bild, von dem der anonyme Schreiber uns versichert, er habe es von „einem Mann, der unsere Sprache spricht und der vor dreißig Jahren aus Alexandria in diese Region gekommen ist“ (also dem berühmten Gaspar da Índia) erhalten, hatte nicht lange Bestand und wandelte sich bereits 1501 beträchtlich, als Pedro Álvares Cabral mit einem neuen dreigeteilten Schema (Tabelle oben) nach Portugal zurückkehrte, das Christen, Mauren und Heiden beinhaltete.(3) Oder anders ausgedrückt: Ein falsches Bild wurde durch das Hinzufügen empirischer Informationen korrigiert, welche es erlaubten, die Christen von der Mehrheit der Einwohner Keralas zu unterscheiden.(4)
Im folgenden Jahrzehnt sollten weitere Kategorien hinzukommen. Es wurde klar, dass die Muslime sich ihrerseits in mindestens zwei große Gruppen spalteten (einerseits die des "Xeque Ismael“ und seiner Carapuças roxas oder Qizilbāsh, also die Schia-Anhänger der Safawiden; und andererseits die dominierenden Sunniten) und dass auch die Christen Keralas nicht dieselben Glaubensüberzeugungen hatten wie die Portugiesen. Lässt man nun aber außer Acht, dass die Akteure des frühen 16. Jahrhunderts Dinge, die wir heute wissen, nur teilweise wussten, läuft man Gefahr, vorschnelle Urteile über ihre Handlungen zu fällen. Dadurch kann ein Bild von ihnen gezeichnet werden, in dem sie weitaus naiver erscheinen, als sie wahrscheinlich waren.
Das Problem wird darüber hinaus dadurch erheblich verschärft, dass sich die Gesellschaften zur damaligen Zeit aus Akteuren zusammensetzten, die oftmals Analphabeten waren oder aber, wenn sie des Lesens und Schreibens kundig waren, es nicht für wichtig hielten, ihr Wissen schriftlich festzuhalten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Marco Polo. Es ist reiner Zufall, dass sein Bericht späteren Generationen überliefert wurde, denn er selbst scheint nicht sonderlich motiviert oder gar fähig gewesen zu sein, seine Geschichte zu Papier zu bringen. Der erstaunliche Mangel an Quellen über den Indischen Ozean im 15. Jahrhundert bestätigt dies. Die chinesischen Texte im Zusammenhang mit den Reisen der Ming-Dynastie (so der Bericht des Ma Huan) sind in erster Linie das Ergebnis von obligatorischen amtlichen Aufzeichnungen.(5) Dass der Text von Niccolò de' Conti in schriftlicher Form vorliegt, ist wiederum auf den Eingriff eines humanistischen „Co-Autors“, Poggio Bracciolinis, zurückzuführen; auch der gequälte Bericht des Russen Afanasij Nikitin scheint eine eher verzweifelte Maßnahme des Autors gewesen zu sein, in einem Land voller Ungläubiger, die er verabscheute, seinen Verstand zu bewahren; und 'Abdur Razzaq Samarqandis Bericht von seinen Reisen nach Kerala und Vijayanagara in den 1440er Jahren ist die in einen hochliterarischen Text eingebundene Ich-Erzählung eines gelehrten Geschichtsschreibers. (6)
Anders gesagt, wir finden nirgends in diesen Texten eine einfache, ungeschminkte Schilderung eines Kaufmanns (in der Kairoer Geniza-Tradition) oder einen Reisebericht mit praktischen Informationen über Münzen, Gewichte, auf dem Markt erhältliche Waren oder Ähnliches. Die Gründe hierfür sind offensichtlich. Handelsinformationen waren wertvoll und wurden nicht bereitwillig preisgegeben; in der Tat waren auch die GenizaDokumente nicht für eine weite Verbreitung bestimmt.(7)
Das bedeutet freilich nicht, dass Kenntnisse und wertvolle Informationen nicht in Kaufmannskreisen mündlich weitergegeben wurden, ganz im Gegenteil. Als Vasco da Gama 1498 in Indien eintraf, gab es mit Sicherheit einige Dutzend mediterrane Händler in verschiedenen Häfen des Indischen Ozeans, die über Kenntnisse verfügten, die weit über das hinausgingen, was Gama in drei kurzen Monaten in Kerala sammeln konnte. Wir kennen ihren Wissensstand zwar nicht genau, aber hier und da können wir eine Schätzung riskieren, so im Fall von Gaspar da Índia oder Ibn Tajjib („Bontaibo“ bzw. „Monçaide“), einem tunesischen Muslim, dem die Portugiesen 1498 in Kalikut begegneten. Ein weniger bekanntes Beispiel soll diesen Punkt verdeutlichen. Als João da Novas kleine Flotte 1502 nach Lissabon zurückkehrte, führte sie dem Bericht des berühmten in Lissabon lebenden florentinischen Kaufmanns Bartolemeo Marchionni zufolge „einen Venezianer mit, der 25 Jahre dort (in Asien) verbracht hatte“.(8) Dieser Mann, Bonajuto d'Albano (Benevenuto del Pan), kam ursprünglich vom Campo San Bartolomeo in der Nähe der Rialtobrücke, wo sein Bruder noch immer lebte; er war nun etwa 70 (oder nach anderen Versionen etwa 60) Jahre alt, lahmte (zoto da una gamba) und war recht arm, denn er hatte bei einem Schiffbruch im Indischen Ozean angeblich die beachtliche Summe von 20 000 bis 25 000 Dukaten verloren.(9) Albano behauptete, ausgedehnte Reisen durch Persien, Hormuz, Guzerat (Gujarat, „Combait“) sowie „Chocolut und all diese Länder“ einschließlich Malakka unternommen zu haben. Unglücklicherweise, so Marchionni über Albano, sei es ihm während dieses Wanderlebens unmöglich gewesen, seine Söhne christlich zu erziehen. Daher habe er die Gelegenheit ergriffen, mit den Portugiesen nach Europa zurückzukehren, um „seine beiden Söhne und seine Frau zu Christen zu machen“, auch wenn sie nahezu unbekleidet waren und Beobachtern in Lissabon ziemlich unkultiviert erschienen. Er war auch nicht der einzige Rückkehrer, denn dieselbe Flotte brachte einen gebürtigen Valencianer und einen anderen Mann aus Bergamo mit, die beide einige Jahre in Indien gelebt hatten. Albano wurde sofort nach Sintra gebracht, wo sich König Manuel zu jener Zeit aufhielt, und offensichtlich über den Handel in Asien ausgefragt, über den er sicherlich gut Bescheid wusste. Einige neuzeitliche Autoren vermuteten, dass die von ihm überbrachten Kenntnisse Dom Manuel ermutigt haben, den Handel in Südostasien zu erkunden, was 1509 durch Diogo Lopes de Sequeira zu den ersten direkten Kontakten der Portugiesen mit Malakka führte (obwohl Malakka bereits in dem anonymen Text von 1498/99) vorkommt).
Dennoch war es für diejenigen, die sich um schriftliche Aufzeichnungen bemühten, schwer, an Informationen über Asien und Kenntnisse über die wirtschaftliche und politische Geografie heranzukommen. Das äußerst umfangreiche, öffentlich gehaltene Tagebuch von Marino Sanuto in Venedig macht dies deutlich, denn seine zwei wichtigsten Quellen waren Korrespondenten aus Ägypten und Iberien, auch wenn beide nur fragmentarische Informationen lieferten. Das Bild, das sie weitergaben, war teilweise verwirrend und widersprüchlich. So verkündete 1506, acht Jahre nach der Ankunft von Vasco da Gamas Flotte in Kalikut, der vom Hof Philips I. in Kastilien zurückgekehrte venezianische Gesandte Vicenzo Quirini dem Senat der Serenissima, dass die Lage für die Bewohner der Lagune in Wahrheit gar nicht so düster sei, wie vielleicht angenommen. Denn viele - darunter auch der notorisch streitsüchtige, aber dennoch allgemein bekannte und gefeierte Tagebuchautor Girolamo Priuli - hatten es von den Dächern Venedigs gerufen: Aufgrund der Entdeckung der Kaproute sei das Ende nahe.(10)
(ibid., S. 25-28)