IABLIS
IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse
Als der ›Merkur‹ sich seinerzeit ›Deutsche Zeitschrift für
europäisches Denken‹ nannte, war dies den vorangegangenen
Exzessen des nationalistischen Denkens geschuldet, gegen die
Europa als einheitlicher Denk-, Kultur- und Handlungsraum zur
Geltung gebracht werden sollte. Heute darf mit Fug bezweifelt
werden, dass der Ausdruck ›europäisches Denken‹ mehr als eine
historische Reminiszenz bedeutet. Die europäische Realität hat
dem europäischen Denken den Rang abgelaufen. Erstens sind viele
der Probleme, die heute bedacht werden wollen, weltweit und
nicht auf Europa zu beschränken. Das gilt auch und gerade für
die Probleme Europas: Wie man in diesem Teil der Welt leben
will und leben kann, entscheidet sich im Blick auf globale
Märkte, auf Produktions- und Machtverhältnisse, und der
Sachverstand ist gut beraten, sich nicht allzu lange damit
aufzuhalten, was ›wir Europäer‹ uns dabei alles denken.
Zweitens zeitigt das europäische Denken, verstanden als Entwurf
eines neuen, befriedeten und geeinten Europa, nicht mehr den
alten Überschwang, seit die weit fortgeschrittene politische
und ökonomische Einigung Europas die alten Antagonismen neu
sortiert. Drittens scheint Europa definitiv entschlossen zu
sein, seine Identität auf dem Altar der westlichen Werte zu
opfern und zu finden, die allesamt ebenso universalistisch wie
europäischen Ursprungs sind – ein Gegensatz, vielleicht ein
Scheingegensatz, der mehr über Europa aussagt als seine
regionalen Küchen und Kirchenformen, die deshalb nicht
unbedeutend genannt werden dürfen.
Die Vielzahl politischer, ökonomischer, kultureller Prozesse,
in denen sich Europa verliert und findet, sind weder auf einen
Generalnenner zu bringen noch mit einem einheitlichen
Richtungssinn zu versehen. Sie greifen ineinander – stärker und
unmittelbarer als das, was den Kontinent mit dem Rest der Welt
verbindet, wenn man die privilegierte Position der Vereinigten
Staaten von Amerika und vielleicht Russlands mitbedenkt, der
beiden Mächte, die gleichzeitig Teile des europäischen Systems
sind und eine ihm abgewandte Seite besitzen. Allein ihre fremde
Anwesenheit verbürgt das Gewicht der Nationen und dessen, was
man heute das ›kulturelle Gedächtnis‹ nennt. Europa ist nicht
die Nation der Freiheit, sondern ein spannungsreiches Ensemble
argwöhnisch und eifersüchtig über ihre Freiheit (und ihre
Freiheiten) wachender Nationen. Daran wird sich so rasch nichts
ändern. Es sollte möglich sein, die künftigen Vereinigten
Staaten von Europa unter globalen und universalistischen
Gesichtspunkten denken, ohne mit dem Hinweis auf die
Hartnäckigkeit nationaler Prägungen eines Besseren belehrt zu
werden. Die europäischen Prozesse sind konkret, sie spielen vor
dem Hintergrund kultureller und anderer Identitäten, die Last
und Lust des individuellen und kollektiven Daseins regeln, ohne
es deshalb zur Gänze zu formen. Wer diese Hintergründe
ausleuchtet, darf nicht dem Irrglauben huldigen, er habe damit
eine von der Politik oder der öffentlichen Meinung sträflich
vernachlässigte Handlungsebene ins Licht gehoben. Nicht jedes
Wissen verlangt danach, unmittelbar in Handlung überführt zu
werden. Es genügt, wenn es den Handelnden geläufig ist und das
Handeln sinnvoll begleitet. Die Wirkungen kulturbezogenen
Nachdenkens sind nicht planbar, sie stellen sich ein – oder
auch nicht.
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7. Jahrgang 2008
Die Enden der Kunst
Vorwort
Hegels These vom Ende der Kunst steht, allen vordergründigen
Widerlegungen und allem Beharren auf einer Modernität nach
Hegel zum Trotz, als Menetekel über allem künstlerischen
Gewerbe. Das erstaunt, nachdem der dialektische Weltprozess
längst in einen Prozess der Verwesung übergegangen ist.
Posthistoire, Postmoderne, Moderne ›danach‹ sind Schlagworte,
in denen, neben manchen anderen, auch das Ende der Kunst nistet
– nicht als Abschluss, sondern als ausgedehnter Endzustand, als
Veralten des Neuen in Permanenz, als ritueller ›Zirkus‹. In
diesem Zustand ›danach‹ sind, wie viele zu wissen glauben, alle
Fragen offen, was wenig mehr bedeutet, als dass es zur Routine
geworden ist, sie in der einen oder anderen Weise zu
beantworten und gleichzeitig offen zu lassen. Was immer man
sagen könnte – und wirklich ohne Unterlass sagt –, es reicht
nicht aus, um die enorme Lücke zu füllen (oder zu schließen),
die der Verlust der Moderne, ihrer ›großen Erzählungen‹, wie
man sie allzu pauschalisierend nennt, gerissen hat. Wer so
denkt – und agiert –, der ist nicht wirklich am Danach
interessiert, er hört nicht auf, das Verlorene zu bedenken,
weil es noch als Verlorenes gegenwärtiger ist als das
Gegenwärtige, oder er lügt sich die Welt zurecht, in der es
weder das eine noch das andere gibt, weder den Verlust noch das
Verlorene. Immerhin liegt es im Schema der Moderne, irgendein
Danach auszurufen und zu sehen, was geschieht: mit dieser Art
Revolution beginnt und endet sie, wenn man den Interpretationen
glauben darf.