Felix Meiner - Philosophische Bibliothek
Johann Gottlieb Fichte
Reden an die deutsche Nation
Einleitung
Evitando vivit anima, quae appetendo moritur.
Augustinus
Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation sind ohne Zweifel das kontroverseste seiner Werke. Noch viel mehr als für ihre philosophiehistorische oder systematische Einordnung, die von Einschätzungen als zentrale geschichtsphilosophische Einlassung Fichtes bis zur Behauptung vollständiger philosophischer Bedeutungslosigkeit als reines Propagandawerk reichen, gilt dies für die politische Bewertung der Reden. Hier finden sich auf der einen Seite Apologien, welche Fichte als "Prophet" betrachten, der in einem "Akt der Notwehr" handele, um "der durch die verheerende Niederlage demoralisierten Nation geistig-moralischen Halt und neue Orientierung" zu geben, wie auf der anderen Seite Verdammnisurteile, die in den Reden einen "performativen Rassismus" am Werke sehen, welcher eine "Grundgeste der NS-Ideologie" darstelle. Es kann bei dieser extremen Spannbreite zwischen extremen Urteilen nicht verwundern, daß bisweilen sogar die Möglichkeit angezweifelt wird, überhaupt eine einigermaßen neutrale Position zu den Reden an die deutsche Nation beziehen zu können, so daß mithin gelte: "Jede Interpretation ist per se immer schon eine Parteinahme." Feilich soll im folgenden trotzdem versucht werden, von einer solchen Parteinahme, so weit dies irgend möglich ist, abzusehen.
Die Einleitung wird zunächst den historischen Hintergrund der Entstehung der Reden skizzieren und sodann deren Stellung im Kontext der philosophischen Entwicklung Fichtes beleuchten. Im dritten Teil sollen für die Reden an die deutsche Nation Theoreme, Argumente und Grundbegriffe - insbesondre Fichtes Kritik am Denken der Auflärung, sein Erziehungskonzept und sein Begriff der "Ursprünglichkeit" - exponiert und analysiert werden. Der vierte Teil wird einige Hinweise zur Rezeptionsgeschichte geben, die ebenfalls die erwähnte Spannung zwischen politischen Extrempositionen dokumentiert, welcher die Reden durchaus Vorschub leisten.
(Auszug aus: Aichele, Alexander: Einleitung, ebd., S. VII-VIII)