Am Falschen Ort
Autobiographie
"AM FALSCHEN ORT
Ein bewegendes Zeugnis intensiver Erinnerungsarbeit ...
Eine Geschichte von Brüchen und Neuanfängen
"AM FALSCHEN ORT" IST DER BERICHT
über eine im Wesentlichen verlorene oder vergessene Welt. Vor einigen Jahren wurde mir eine offenbar tödliche Diagnose gestellt, und so erschien es mir wichtig, einen subjektiven Bericht meines Lebens zu hinterlassen, das sich sowohl in der arabischen Welt abspielte, in der ich geboren wurde und meine prägenden Jahre verbrachte, als auch in den Vereinigten Staaten, wo ich zur Schule ging und College und Universität besuchte. Etliche der Orte und Menschen, an die ich mich hier erinnere, gibt es nicht mehr. Allerdings war ich oft erstaunt, wie viel von ihnen ich in häufig winzigen, wenn auch verblüffend konkreten Details noch in mir trug.
Meine Erinnerung erwies sich als entscheidend wichtig, um in angsterfüllten Phasen entkräftender Krankheit und Therapie überhaupt arbeitsfähig bleiben zu können. Fast jeden Tag, auch wenn ich an anderen Texten schrieb, verschaffte mir das Stelldichein mit diesem Manuskript eine Ordnung und eine Disziplin, die angenehm und fordernd zugleich war. Meine anderen Schriften und meine Lehrverpflichtungen schienen mich weit von den verschiedenen Welten und Erfahrungen dieses Buches fortzutragen: Offensichtlich funktioniert die Erinnerung eines Menschen besser und freier, wenn sie nicht durch besondere, diesem Zweck dienende Mittel oder Tätigkeiten angeregt wird. Dennoch sind in diese Erinnerungen mit Sicherheit und mehr oder weniger unbemerkt auch meine politischen Schriften zur Situation der Palästinenser eingegangen, ebenso wie meine Studien zum Verhältnis von Politik und Ästhetik, insbesondere zu Oper und Prosa, und meine Faszination für das Thema eines Buches über »späte Schaffensperioden« (beginnend mit Beethoven und Adorno).
Er sprach darüber, wie er mich auf den Schultern getragen hatte, wie wir in der Küche geschwatzt hatten, wie die Familie Weihnachten und Neujahr gefeiert hatte und so fort. Ich war erstaunt, dass Ahmad sich nicht nur genau an uns sieben erinnerte - Eltern und fünf Kinder -, sondern auch in jede einzelne meiner Tanten, an Onkel, Kusinen und meine Großmutter, sowie an einige Freunde der Familie. Und als so die Vergangenheit aus ihm herausströmte, einem alten Mann, der seinen Lebensabend in der entlegenen Stadt Edfu in der Nähe von Assuan verbrachte, wusste ich wieder, wie zerbrechlich, kostbar und vergänglich die Geschichte und Umstände waren, die nun nicht nur für immer vergangen, sondern auch im Wesentlichen vergessen und unaufgezeichnet geblieben waren, außer in gelegentlichem Einnern oder beiläufiger Unterhaltung.
Diese zufällige Begegnung vermittelte mir noch nachdrücklich das Gefühl, dass dieses Buch als inoffizieller persönlicher Bericht über diese turbulenten Jahre im Nahen Osten einen gewissen Wert besitzt. Ich berichte darin so viel als nur möglich von meinem Leben zu jener Zeit, hauptsächlich aus den Jahren von meinem Geburtsjahr 1933 bis ins Jahr 1962, kurz vor Abschluss meiner Dissertation. Diese Geschichte meines Lebens spielt vor dein Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, des Verlustes Palästinas und der Gründung Israels, des Endes der ägyptischen Monarchie, der Nasser-Jahre, des Kriegs von 1967, der Entstehung der palästinensischen Bewegung, des libanesischen Bürgerkriegs und des Friedensprozesses von Oslo. In meiner Erinnerung spielt all das nur eine indirekte Rolle, auch wenn es hier und dort flüchtig aufscheint.
Interessanter für mich als Autor war das Gefühl, das ich immer empfand, wenn ich Erfahrungen zu vermitteln suchte, die ich nicht nur in einer fernen Umgebung, sondern auch in einer anderen Sprache gemacht hatte. Jeder lebt sein Leben in einer vorgegebenen Sprache; alle Erfahrungen werden daher in dieser Sprache erlebt und erinnert.Der grundlegende Riss in meinem Leben verlief zwischen dem Arabischen, meiner Geburtssprache, und dem Englischen, der Sprache meiner Ausbildung und späteren Arbeit als Wissenschaftler und Lehrer. Deshalb war es nicht leicht, den Bericht über das eine in der Sprache des anderen zu erstellen - ganz zu schweigen von den zahllosen Weisen, in denen sich die Sprachen für mich vermischten und in einzelnen Bereichen überschnitten. So war es etwa schwierig, auf Englisch die tatsächlichen Unterschiede (wie auch die reichen Assoziationen) zu erläutern, in denen das Arabische zum Beispiel zwischen Onkel väterlicher- und mütterlicherseits unterscheidet; da solche Nuancen in meinem frühen Leben aber eine eindeutige Rolle spielten, musste ich auch versuchen, sie hier wiederzugeben.
Neben der Sprache liegt im Kern meiner Erinnerungen an diese frühen Jahre die Geographie - vor allem in der entfremdeten Form von Abreisen, Ankünften, Abschieden, Exil, Heimweh, Nostalgie, Zugehörigkeit und des Reisens selbst. Jeder der Orte, an denen ich lebte - Jerusalem, Kairo, der Libanon, die Vereinigten Staaten -, war von einem komplizierten, dichten Geflecht von Wertigkeiten geprägt, das mich in besonderer Weise in meinem Heranwachsen begleitete, in der Identitätsfindung, in dem Bemühen, ein Bewusstsein von mir selbst und anderen herauszubilden. Stets nehmen in dieser Geschichte die Schulen einen herausragenden Platz ein - Mikrokosmen der Städte, in denen meine Eltern diese Schulen für mich fanden. Da ich selbst unterrichte, war es nur natürlich, dass ich das ganze Umfeld der Schulen einer besonderen Darstellung für wert hielt, obwohl ich gar nicht damit gerechnet hatte, wie genau ich mich an die ersten von mir besuchten Einrichtungen erinnerte, und ebenso natürlich war es, dass die Freunde und Bekannten aus jener Zeit in stärkerem Maße zu einem Teil meines Lebens geworden sind als diejenigen aus meinen Universitätstagen oder Internatsjahren in den Vereinigten Staaten.Eines der Dinge, die ich implizit zu erforschen suchte, ist der Einfluss, den diese sehr frühen Schulerfahrungen auf mich ausübten, die Frage, warum ihr Einfluss anhält und warum sie mir noch heute so faszinierend und interessant erscheinen, dass ich sie fünfzig Jahre später den Lesern vorstelle.
Der Hauptgrund jedoch für diese Erinnerungen liegt natürlich in dem Bedürfnis, die schiere zeitliche und räumliche Distanz zwischen meinem heutigen und meinem damaligen Leben zu überwinden. Ich erwähne das hier nur als offensichtliche Tatsache, nicht um mich darüber auszulassen oder es zu diskutieren. Ich stelle lediglich fest, dass eines der Ergebnisse davon eine gewisse Distanz und Ironie in Haltung und Tonfall ist, wenn ich versuche eine entlegene Zeit und Erfahrung zu rekonstruieren. Mehrere der hier beschriebenen Personen sind noch am Leben und werden meinen Porträts von ihnen und anderen wahrscheinlich weder zustimmen noch sie billigen. Sowenig ich den Wunsch hege, die Gefühle anderer zu verletzen - meine wichtigste Aufgabe bestand nicht darin, nett zu sein, sondern meine vielleicht eigenartigen Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle wahrhaft wiederzugeben. Ich und nur ich bin verantwortlich für das, was ich sehe und woran ich mich erinnere, kein Individuum in der Vergangenheit, das nicht wissen konnte, welche Wirkung es womöglich auf mich hat. Und schließlich wird hoffentlich auch deutlich, dass ich bewusst mir selbst weder als Erzähler noch als dargestellter Charakter ebendiese Ironien oder peinlichen Erinnerungen erspart habe.
(ebd., Vorwort, S. 5-10)