Superbia und Narziß
Personifikationen und Allegorie in Miniaturen mittelalterlicher Handschriften
Superbia und Narziß, zwei Figuren, wie sie gegensätzlicher nicht sein können.
Narziß für ein typisches Sujet der Kunst der Renaissance zu halten und ihn womöglich für deren Antikensehnsucht und erwachenden lndividualismus anzuführen, ist ebenso begründet wie naheliegend. Wenn ein solcher Fokus bisweilen die Vorstellung genährt hat, der Rede wert sei Narziß nach der Antike nur noch in Renaissance und Barock, dann ist aus einer Unterlassung ein Fehler geworden. (1) Die folgende Studie möchte das Verständnis von Narziß auf eine breitere Quellengrundlage stellen und zeigen, daß er in der bildenden Kunst des Mittelalters, genauer in der Buchmalerei, weit verbreitet war. Die zahlreichen Miniaturen zu dieser mythologischen Figur zusammen mit der Vielzahl seiner literarischen Bearbeitungen demonstrieren, daß Narziß zu dem Kanon der in der Buchkunst des Mittelalters immer wieder rezipierten Mythen gezählt werden muß.
In der Buchmalerei wird Narziß zum ersten Mal seit der Antike wieder verbildlicht. Grund genug, die alte Frage nach der Antikenrezeption im Mittelalter erneut zu stellen, die die vorliegende Arbeit detaillierter als das für die in Frage stehende Epoche bisher geschehen ist, anhand eines einzelnen Mythos und entlang der Gesamtheit aller seiner Darstellungen in der Buchmalerei beantwortet. So ist es erstmals gelungen, die ikonographische Entwicklungen eines Mythos über das gesamte Mittelalter hinweg zu verfolgen. Die Absicht war es, die Qualitäten einer solchen Methode in Abgrenzung zu generalisierenden Übersichtsdarstellungen auf der einen Seite und aussagescheuen Handschriftenanalysen auf der anderen sichtbar zu machen, lassen sich doch mit ihr Besonderheiten sauberer herausarbeiten und Verallgemeinerungen nachvollziehbarer vomehmen als durch die Diskussion verstreuter Einzelbeispiele.
Die Konzentration auf die Buchmalerei erschien um so wünschenswerter, als dadurch nicht nur ihre herausragende Bedeutung für die Wiederbelebung der antiken Mythologie eine Würdigung erfährt, sondern auch die Bildgattung untersucht wird, die die für das Mittelalter charakteristische Moralisierung des paganen Kulturguts in Anlehnung an die Texte am nachhaltigsten umgesetzt hat. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß die Buchmalerei der Ort eines bemerkenswerten Austausches geworden ist: Narziß übernimmt im Laufe des Mittelalters immer mehr Elemente aus der lkonographie der Superbia und wird so bildlich an die Personifikation des Hochmuts angeglichen. Die Überschneidungen beider lkonographien kennen aber auch den umgekehrten Fall, bei dem eine Narziß-Darstellung das Vorbild fur eine Superbia-Darstellung abgibt. Die vorliegende Arbeit analysiert die Ikonographien von Superbia und Narziß in der Buchmalerei des 9. bis 16. Jahrhunderts mit der Absicht, die bildliche Moralisierung des Mythos und den damit einhergehenden Austausch von Bildelementen nachzuzeichnen. Es geht dabei um die Frage, unter welchen Gesichtspunkten sich das Mittelalter mit dem antiken Mythos beschäftigte und bis zu welchem Grad sich neue Ansprüche an ihn im Bild manifestierten.
Superbia und Narziß, das sind zwei Figuren, wie sie gegensätzlicher nicht sein können. Sie miteinander harmonisieren zu wollen, scheint auf den ersten Blick ein Unterfangen, das an ihren eklatanten Unterschieden scheitern muß. Superbia hat ihre Wurzeln im Alten Testament, Narziß dagegen entstammt der antiken Mythologie und wird von Ovid in dessen Metamorphosen geprägt. Während Narziß nach der Antike ganze 8 Jahrhunderte in Vergessenheit gerät, arbeiten die Kirchenväter das Mittelalter hindurch an der Definition Superbias, bis sie sie schließlich an die Spitze der sieben Todsünden stellen. Erstmals wird Superbia im 9. Jahrhundert in einer Kopie der Psychomachia verbildlicht. Narziß - seit dem 12. Jahrhundert literarisch wiederentdeckt - findet nicht vor Ende des 13. Jahrhunderts in Miniaturen des Roman de la Rose zu seiner bildlichen Gestalt.
(Auszug aus der Einleitung, ebd. S. 1)
1 "Das Narkissos-Motiv war in der Renaissance und Barock sehr beliebt.", so meint etwa Bäbler in ihrem Artikel zu "Narkissos" in: DNP, Bd.8 das Nachleben des Narziß nach der Antike zusammenfassen zu können.