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A

Abgebildete Kranke

Eigentlich ist der flämische Medizin-Professor Jan Dequeker Rheumatologe an der Katholischen Universität im belgischen Leuven. Die besondere Liebe des weißhaarigen Mannes mit der beeindruckenden Haartolle aber gehört der Kunst. Irgendwann beschloss Dequeker, den Beruf mit der privaten Leidenschaft zu verbinden. Er machte sich daran, bedeutende Werke der Kunstgeschichte darauf zu untersuchen, ob die darauf Abgebildeten möglicherweise an Krankheiten litten. Wie jeder gute Hausarzt ist nämlich auch Dequeker der Meinung, dass man für die Diagnostizierung einer Erkrankung nicht gleich sofort das gesamte Repertoire an Geräte- und Labormedizin aufzubewahren braucht. Viel wichtiger, so der Flame, sei es, den Patienten erst einmal genauer anzusehen. Die Ergebnisse seiner kunsthistorischen Diagnostik hat Jan Dequeker Ende 2006 in einem umfangreichen Bildband mit dem Titel Kunstenaar en de dokter, zu Deutsch: Der Künstler und der Arzt, vorgelegt und ausführlich begründet. Schon 2001 hatte er exemplarisch Rubens drei Grazien unter die Lupe genommen.
Rubens, Peter Paul: Die drei Grazien (1636-1638); Öl auf Leinwand, 221x181 cm; Madrid, Museo del Prado. Peter Paul Rubens portraitierte in diesem Bild seine zweite Frau, Hélène Fourment, sowie deren zwei Schwestern. Das Gemälde hängt im Prado Madrid.
Rubens, Peter Paul: Die drei Grazien (1636-1638); Öl auf Leinwand, 221x181 cm; Madrid, Museo del Prado. Peter Paul Rubens portraitierte in diesem Bild seine zweite Frau, Hélène Fourment, sowie deren zwei Schwestern. Das Gemälde hängt im Prado Madrid.

Die drei Nackten Damen auf dem heute im Madrider Prado zu bewundernden Meisterwerke sind Schwestern: Hélène Fourment, die zweite Frau des Malers, stand nicht nur einmal Modell für die weich gerundeten Frauengestalten, die jeder heute mit Rubens verbindet. Für die beiden anderen Töchter des Zeus standen zwei Schwestern der schönen Hélène Modell. Sie alle schienen nicht bei bester Gesundheit gewesen zu sein. Dequeker diagnostiziert gleich eine ganze Reihe von Erkrankungen bei den Spielgefährtinnen der Liebesgöttin Aphrodite: Die Frau in der Mitte zum Beispiel steht auf dem linken Bein, die rechte Hüfte ist herabgesunken. Der Mediziner bezeichnet dieses Phänomen als "positives Trendelburg-Zeichen": Das Becken kann bei ungleicher Belastung nicht im Gleichgewicht gehalten werden. Ursachen dafür könnte eine Hüftluxation (der Oberschenkelkopf befindet sich nicht in der ihm zugedachten Gelenkpfanne) oder eine Insuffizienz der Gesäßmuskeln sein. Außerdem hat die Dame nach Meinung des Mediziners eine Skoliose, eine seitliche Verbiegung der Wirbelsäule, die auch für den Laien gut an der Schlangen- oder S-Form der Wirbelsäule zu erkennen ist. Die Grazie zu ihrer Linken hat nach Dequekers Meinung an der rechten Hand eine Schwanenhalsdeformität (eine Fingerfehlstellung, die auf eine rheumatoide Arthritis zurückzuführen ist) und außerdem Plattfüße. Bei allen drei Frauen glaubt er, eine Hyperlordose in der Lendenwirbelsäule zu erkennen. Das alles klingt nicht gut, zumal wenn der selbst von Gicht gepeinigte Rubens all diese Symtome tatsächlich bei den Frauen beobachtet hat, Zeus' Töchter also halbwegs realistisch dargestellt hat und sie nicht einfach nur ein wenig schlecht aussehen lassen wollte.

All die beschriebenen Krankheitszeichen deuten mämlich laut Dequeker auf ein familiäres Hypermobilitätssyndrom hin, bei dem schlaffe Gelenkkapseln und Halteapparate zu einer Überbeweglichkeit der Gelenke führen - eine Bindegewebsschwäche, die erstmals in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts in der medizinischen Fachliteratur beschrieben wurde. Am Ende kann sie zu einer chronischen Arthritis führen.

Manche der von Dequeker diagnostizierten Krankheiten könnten aber auch erst mit dem Alter gekommen sein - dem Alter der Gemälde. Denn mit der Zeit werden die Farben dunkel und brüchig, was fachkundige Hilfe verlangt: Die Neurofibromatose, eine Erbkrankheit, die Tumore an den Nervenenden wachsen lässt, die Dequeker auf Jusepe de Riberas Paulus-Gemälde in Köln zu erkennen vermeint, muss nicht unbedingt mit einer wirklichen Erkrankung des Modells oder dem Versuch des Malers, die oft diskutierte Hinfälligkeit des Apostels (Arthrose, Rheuma, Augenleiden) ins Bild zu bannen, zusammenhängen. Vielleicht war es einfach nur irgendein Restaurator, der im Laufe der letzten Jahrhunderte dem Paulus diese Erberkrankung "angemalt" hat (...)

 

(Koldehoff, Nora / Koldehoff, Stefan: Wem hat van Gogh sein Ohr geschenkt? Alles, was Sie über Kunst nicht wissen. Frankfurt a. M.: Eichborn 2007, S. 5-6)

Z

Zahlen, Malen nach

Anfang der 1970er-Jahre überraschte der Maler und Grafiker Gerhard Richter die Kunstwelt mit einer Serie von Gemälden und Offset-Lithografien, die, wie oft bei seinen Werken, nichts mit dem gemein hatten, was er bis dahin gemalt hatte. Richter ordnete auf rechteckigem weißem Grund exakt eintausend-zweihundertsechzig ebenfalls rechteckige kleine Farbfelder in jeweils zweiundvierzig mal dreißig Reihen an, die wie Mustertafeln eines Lackherstellers wirken.

Wer heute vor einem dieser Bilder steht, sieht vor allem ein Fest der Farben, das im Frühjahr 2007 sogar zur Vorlage eines riesigen Glasfensters wurde, das Gerhard Richter für das Querhaus des Kölner Doms gestaltete. Ein Prinzip ist in der scheinbar erratischen Abfolge der Farben nicht zu erkennen.

Was auf den ersten Blick vollkommen willkürlich wirkt, folgt allerdings tatsächlich einem genau festgelegten Prinzip. Aus den drei Grundtönen des Mehrfarbdruckes - rot, gelb und blau - erzeugte Richter zunächst neunhundertneunundneunzig durchnumerierte Mischungen. Jedes Blatt ist durch eine Farbreihenfolge gekennzeichnet, die der Maler unten links auch auf die fertiggestellten Blätter schrieb. Für ein Blatt mit der Kombination "Rot-Blau-Gelb" setzt sich dann der Ton mit der Ordnungsnummer 258 zusammen aus:

  • 2 Teilen rot
  • 5 Teilen blau
  • 8 Teilen gelb

und ergibt ein helles Olivgrün.

Auf einem Blatt mit der festgelegten Kombination "Gelb-Rot-Blau" allerdings führt dieselbe Kombination 258 zur Mischung:

  • 2 Teile gelb
  • 5 Teile rot
  • 8 Teile blau

und damit zu einem Blauviolett.

Die auf diese Weise entstandenen neunhundertneunundneunzig Farbtöne ergänzte Richter für seine Gemälde und Grafiken um zweihunderteinundsechzig Sonderfarben, um auf die von ihm gewünschte Zahl von eintausendzweihundertsechzig Farben kommen zu können, die erst das geplante rechteckige format erlaubten. Ihre Reihenfolge loste der Maler schließlich aus.

Entstanden sind auf diese Weise Kunstwerke, die sich jeder Interpretation entziehen. Ihr Material ist allein die Farbe, ihr Prinzip eine Mischung aus mathematischer Logik und purem Zufall, die sich kaum mehr nachvollziehen lässt und deshalb nichts als Kunst ist - beinahe jedenfalls. (...)

(ebd., S. 363-364)