Das Tarim-Becken als Lebensraum
Im Westen, Norden und im Süden wird das schon in ältester Zeit wüstenartige Herz der Taklamakan von den höchsten Gebirgszügen der Welt fast gänzlich eingeschlossen; die Flüsse, wie etwa der Tarim, speisen sich aus den Schmelzwassern der Gletscher. In den Flussoasen am Rande der Taklamakan entstanden, erst ermöglicht durch den Bau von unterirdischen so genannten Karezen, bewässerbare Felder und Obstgärten. Wann genau diese unterirdischen Versorgungskanäle erstmals im Tarim-Becken angelegt wurden, entzieht sich heute noch weitestgehend unserer Kenntnis.
T'rotzdem darf man davon ausgehen, dass diese ingenieurtechnischen Meisterleistungen möglicherweise schon während der Bronzezeit im fortgeschrittenen 2. Jt. V. Chr. dort umgesetzt worden sind: In unterirdischen Stauräumen wird das Schmelzwasser der Hochgebirge gesammelt. Dazu müssen senkrechte Schächte tief in den anstehenden Boden gegraben werden. Unterirdisch wird das Wasser durch Kanäle weitergeleitet, um dann ohne zwischenzeitliche Verdunstung auf die Felder fließen zu können. Frühzeitig entwickelten sich so am Fuße der hohen Gebirgszüge Ackerbaukulturen und jene Städte, die wir heute als durch die Seidenstraße verbundene Knotenpunkte am nördlichen und südlichen Rande auf unseren Landkarten als grafische Fixpunkte vorfinden.
Vor allem die höher gelegenen Regionen mit ihren Grasebenen waren seit früher Zeit (und sind es teilweise noch heute!) Durchzugsgebiet von Nomaden mit ihren Herden aus Pferden, Schafen, Ziegen und zweihöckrigen Trampeltieren. Nomaden können ihrer Wirtschaftsweise gemäß nicht alles Benötigte selbst produzieren. Daher entstand zwischen beiden Wirtschaftsformen schon frühzeitig ein reger Austausch. Weil aber Ackerbauern eher auf die einzutauschenden Handelswaren dieser berittenen Nomaden verzichten konnten als umgekehrt, sahen sich die Reiternomaden häufig gezwungen, sich die gewünschten Produkte der Ackerbauern mit Gewalt zu beschaffen. Gefördert wurden diese Konflikte später sicherlich auch durch die Tatsache, dass sich die Städte zu Handelsplätzen entwickelten, in denen sich nicht nur Produkte des alltäglichen Gebrauchs, sondern auch Luxusgüter wie etwa Seide, Gold, Metalle, Gewürze und andere exotische Gegenstände ansammelten.
Insgesamt finden wir im Tarim-Becken schon in vor- und frühgeschichtlicher Zeit sowohl eine Ackerbau und Viehzucht treibende, fest siedelnde Bevölkerung, zum Teil in Städten, vor, als auch die erwähnten reiternomadischen Gruppen. Die Welt der Reiternomaden und jene der Städter ist, bedingt durch die hohen Berge mit ihren Gras führenden Tälern für die nomadische Viehzucht, immer relativ benachbart gewesen. Zur fest siedelnden, d. h. sedentären Bevölkerung der Städte treten an diesen Orten verkehrende Händler und Fernhändler. Seit frühhistorischer Zeit, um Christi Geburt herum, kommen so auch Missionare des Buddhismus, des östlichen, nestorianischen Christentums und des aus dem persischen Bereich stammenden Manichäismus in diese Zentren der sich entwickelnden Seidenstraße. Die Oasenstädte, meistens mit Fürstenhäusern und aus einheimischen oder zugewanderten Führungsschichten und strukturiertem Adel bestehend, erweckten selbstverständlich auch die Begehrlichkeiten der politischen Führungen der benachbarten Hochkulturen, so etwa die des Han-zeitlichen China, möglicherweise auch des Kuschan-Staates Nordwest-Indiens, einer weiteren asiatischen Großmacht neben dem parthischen Iran und China. Reisende aus diesen Gebieten haben spätestens seit der Zeitenwende das Bevölkerungsbild in den Städten des Tarim-Beckens erweitert.
(ibid., S. 50-51)