Italien - Tagebuch einer Reise
Los von Italien!
Karl Schefflers "Tagebuch einer Reise"
Scheffler war zu jener Zeit ein vielgelesener populärwissenschaftlicher Autor. Die Spannbreite der Themen, die er in Buch- und Aufsatzform verhandelte, reichte von moderner Malerei und Baukunst über kulturphilosophische und gesellschaftspolitische Fragen bis hin zu literarischen Erzählungen. Einem größeren Publikum war er vor allem als Tageskritiker bekannt. Als das Italien-Buch erschien, wirkte er als Redakteur der von Bruno Cassirer verlegten Zeitschrift »Kunst und Künstler«, darüber hinaus war er leitender Redakteur im Feuilleton der Berliner »Vossischen Zeitung«.
Diese kurze Auflistung mag genügen, um die beeindruckende Vielseitigkeit von Schefflers Wissens- und Tätigkeitsgebieten zu verdeutlichen. Umso mehr kam, nicht zuletzt vor der Folie seiner persönlichen Biografie, der Auseinandersetzung mit der klassischen Kunst in seinem OEuvre eine besondere Bedeutung zu. Denn Kunstgeschichte hatte Scheffler nie studiert. Als Sohn eines Anstreichers in der Gemeinde Eppendorf bei Hamburg aufgewachsen, entstammte er einem kleinbürgerlichen Milieu, das seinen Werdegang lange Zeit prägte. Scheffler erlernte zunächst den Beruf des Dekorationsmalers und übersiedelte als Neunzehnjähriger nach Berlin, wo er eine Anstellung als Entwurfszeichner in einer Tapetenfabrik annahm. Seit Mitte der neunziger Jahre begann er, Kunstkritiken in verschiedenen Zeitschriften zu publizieren und erlangte auf diese Weise Zugang zu den Kreisen bürgerlich-liberaler Intellektueller, wo er manchen Gönner fand und es vermochte, sich bald als Schriftsteller einen Namen zu machen.
Daß aus dem Musterzeichner, der ohne jede akademische Vorbildung war, binnen weniger Jahre ein vielbeschäftigter Kunstpublizist wurde, war freilich in keiner Weise vorgezeichnet, und vieles an diesem Werdegang verdankte sich der Dynamik des gesellschaftlichen Umbruchs, welchen der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg Berlins mit sich brachte. Scheffler war, um es mit einem seiner Lieblingsausdrücke zu sagen, ein Self Made Man, und zwar nicht nur in beruflicher, sondern auch in intellektueller Hinsicht. »Eigentlich«, so schreibt er in seiner Autobiographie, »hätte ich Ursache gehabt, mich zu fragen, woher ich das Mandat habe, in der Öffentlichkeit und auf die Öffentlichkeit zu wirken. (...) Als Autodidakt in des Wortes verwegenster Bedeutung hatte ich die Vorteile einer stufenweise vorgehenden Bildung entbehren müssen."
I. Die Reise
Zu den Bildungsdingen, auf die Schefler von Hause aus hatte verzichten müssen, gehörte auch die Begegnung mit der Kunst Italiens. Bis zu seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr hatte der längst überaus erfolgreiche Publizist italienischen Boden nie auch nur betreten, kannte die italienische Kunst demnach ausschließlich aus der Fachliteratur und den Museen. Als Scheffler sich schließlich als gereifter Mann anschickte, eine Reise über die Alpen zu machen, war eine Auseinandersetzung mit der Tradition der klassischen Bildungsfahrt gleichsam vorprogrammiert.
Über die sechswöchige Reise, die Scheffler von Ende April bis Mitte Juni 1911 in Begleinmg seiner Ehefrau unternahm, ist nur weniges überliefert, Reisefotografien haben sich offenbar nicht erhalten. Dem rund zwei Jahre später publizierten »Tagebuch« lässt sich freilich entnehmen, daß die Reiseroute augenscheinlich ganz und gar touristischen Kriterien folgte. Sie führte mit der Eisenbahn über den Brenner, sodann zunächst nach Verona und weiter über Vicenza, Padua, Bologna und Venedig bis nach Ravenna; von dort reiste man über den Apennin in die Toskana, besuchte Florenz und Siena. Den Abschluss bildete Rom, von wo aus Scheffler über den Gotthard die Heimreise nach Deutschland antrat.
Wenngleich ein Zeitraum von sechs Wochen ein nach damaligem wie heutigem Ermessen ansehnlicher Luxus für einen Schriftsteller war, der Verpflichtungen gegenüber Zeitungen und Verlagen einzuhalten hatte, war doch Schefflers Unternehmung den äußeren Umständen nach alles andere als eine mit Muße absolvierte Bildungsreise. Denn zügig musste es vor allen Dingen gehen: nicht mit der Gemächlichkeit der Vorväter, sondern in wenigen Stunden überwindet Scheffler mit der Eisenbahn die Alpen. Eine Dampferfahrt auf dem Gardasee dient als kleine Atempause - danach wird Stadt für Stadt nach festgelegtem Zeitplan absolviert. Die Rückreise erfolgte offensichtlich in besonderer Eile, denn die Notizen, die sich im »Reisetagebuch« zu Genua und Mailand finden, sind überaus kursorisch.
Jede Seite des Buches lässt durchblickcn, daß Schefflers Gestimmtheit das Gegenteil von Kontemplation war: Eile diktierte ein gestrafftes Besichtigungsprogramm, und der überwältigenden Fülle von Sehenswürdigkeiten begegnete Scheffler mit Pragmatismus, indem er sich auf touristisch gut erschlossene Hauptpfade konzentrierte, Orte - wie es einmal beiläufig heißt -, »wo die Reisenden die Hauptpersonen sind«. (25) Dazu passt die paradoxe Tatsache, daß Scheffler sich permanent und inständig über das touristische Gepräge und die »Fremdenindustrie« (91) beklagt, handele es sich nun um aufdringliche deutsche Reisegruppen, welche lautstark in den Kirchen palavern (36), den »Verkaufsplunder« (91) venezianischer Straßenhändler, das geschäftsmäßige Getriebe in einer Fremdenmetropole wie Florenz oder die Papstgemächer des Vatikan, welche der Schriftsteller »ganz ausstellungshaft hergerichtet« findet. (240)
Alles in allem lässt sich konstatieren, daß Schefflers Reise durch Italien etwas ganz und gar Profanes, ja Touristisches anhaftete; sie war von Anfang an keine Pilgerfahrt ins gelobte Land der Kunst - eben keine Grand Tour. (...)
(Auszug aus Zeising, Andreas: Los von Italien! Karl Schefflers "Tagebuch einer Reise", ibid., S. 151-153