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Falk Wiesemann

Sepulcra judaica

Bibliographie zu jüdischen Friedhöfen und zu Sterben, Begräbnis und Trauer bei den Juden von der Zeit des Hellenismus bis zur Gegenwart

"Seit den biblischen Zeiten ..."

Seit den biblischen Zeiten sind die Sorge um Kranke und Sterbende sowie die Verpflichtung, die Toten zu bestatten und zu betrauern, als substantielle Elemente der religiös bestimmten Sozialordnung des Judentums dokumentiert. Das Anlegen und Unterhalten eines eigenen Friedhofs wird seit dem Mittelalter sogar noch vor der Errichtung einer Synagoge als vordringlichste Aufgabe einer jüdischen Gemeinde angesehen. In den sogenannten Memorbüchern wurden nach den mittelalterlichen Verfolgungen in jeder Gemeinde des aschkenasischen Verbreitungsgebiets anläßlich der Seelenfeiern ("hazkarat neshamot") neben den Namen von Verfolgungsorten und Märtyrern auch Nekrologien für berühmte, meist gelehrte Vorfahren sowie für verdiente Mitglieder der Gemeinden verlesen; unter den ersten Nennungen sind immer die Namen des Ehepaars Schlomo und Rachel, derer gedacht wird wegen ihrer Meriten um den Erwerb des uralten Mainzer Friedhofs im 11. Jahrhundert. Die kollektive Vergegenwärtigung der Verfolgungen und der Verdienste Verstorbener anläßlich der Seelenfeier, bei der die Seelen der Toten zu ihrem Heil Gott in Erinnerung gebracht werden, hat sich ähnlich wie die von den Gemeinden völlig autonom organisierte Betreuung der Sterbenden und ihre Mitwirkung bei der Bestattung stets als starke Klammer des Judentums erwiesen. Die intensive Verbundenheit mit den Begräbnisstätten der Vorfahren kommt etwa heute, nach der Öffnung einstmals kommunistisch beherrschter Weltgegenden, in dem Bestreben vieler aus Osteuropa stammender Juden zum Ausdruck, von weither zu den einstigen Herkunftsorten ihrer Familien zurückzukehren, um dort nach Gräbern von Verwandten zu suchen.

Angesichts der zentralen Bedeutung von Sterben und Trauer, Begräbnis und Begräbnisstätten im Judentum nimmt es wunder, daß bisher noch kein Versuch einer systematischen bibliographischen Erschließung der gedruckten Literatur zu diesen Themenkomplexen unternommen worden ist.(1) Dabei ist dieser Teilbereich jüdischer Kultur von der Forschung durchaus nicht marginalisiert worden, sondern hat seit jeher und bis heute Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Verwiesen sei zum Beispiel auf die große Beachtung, welche gegenwärtig die Grabsteinepigraphik findet, ob es sich nun um antike, mittelalterliche oder neuzeitliche Zeugnisse handelt. Die Erkundung der Interkulturalität der antiken Welt wendet sich verstärkt der Untersuchung jüdischer Bestattungspraktiken und Vorstellungen über "die Welt danach" zu. Bei den Diskussionen über die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden ebenso wie über Entwicklungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gerät die moderne "Friedhofsforschung" zunehmend in den Blick. Gerade in Hinsicht auf die massive, teils systematisch und umfassend durchgeführte Vernichtung jüdischen Kulturguts im Verlauf von Verfolgungen kommt nicht nur der Dokumentation und Erhaltung von Friedhöfen und Grabinschriften eine zentrale Rolle zu, sondern auch der bibliographischen Erfassung von Erzähltem, Beschriebenem, bereits Dokumentiertem, teilweise aber mittlerweile schon wieder Verschwundenem oder Zerstörtem. Mit dem gewachsenen gedächtniskulturellen Bewußtsein intensiviert sich auch das Interesse an genealogischen Recherchen mit ihren Eckpfeilern Geburt, Heirat und Tod, die allesamt ihren Niederschlag in den Grabinschriften gefunden haben. In den Friedhöfen -wie in der Sepulkralkultur überhaupt- spiegelt sich die Geschichte von Religiosität und Frömmigkeit, von sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen, von der Entwicklung einzelner Gemeinden wie auch von regionalen und weiträumigen Verflechtungen wider. Schon die kursorische Lektüre dieser Bibliographie offenbart vielfältige innovative, mit der Sepulkralkultur eng verknüpfte Spezialfelder jüdischer Geschichte: von den derzeit intensiv betriebenen anthropologisch-osteoarchäologischen Messungen an Überresten antiker oder mittelalterlicher Skelette über prosopographische Forschungsansätze bis hin zu Untersuchungen der auf den Grabinschriften verwendeten Eulogien. Der Leser wird auf aufregende, ganz aktuelle Wiederentdeckungen mittelalterlicher Grabsteine mitten in der fränkischen Stadt Würzburg oder in dem weitab gelegenen Ort Eghegis in Armenien stoßen. Er wird anhand bibliographischer Fährten dem in den 1960er Jahren in Israel ausgebrochenen archäologischen Fieber nachspüren können, und er wird möglicherweise erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß demgegenüber die modernen jüdischen Friedhöfe in Israel bislang kaum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden sind. Diese wenigen Fingerzeige mögen genügen, um die Spannbreite der tangierten Themenbereiche zu charakterisieren, von denen aus sich sepulkralkulturelle Zugänge zur jüdischen Geschichte eröffnen lassen.

Der zeitliche Rahmen der Bibliographie erstreckt sich von der Gegenwart bis in die Zeit des Hellenismus, jener Epoche, in welcher sich das palästinische Judentum in Kontakt und Konfrontation mit griechisch-makedonischen Denk- und Lebensformen neu ausprägte und aus welcher überdies im Vergleich zu früheren Zeitabschnitten schriftliche Zeugnisse in größerer Zahl vorliegen. Grabinschriften sind in vielen Landstrichen der antiken Welt oft die einzige Informationsquelle über das Leben der Juden.("2) In der in hellenistischer Zeit entstandenen apokryphen Literatur, in epigraphischen Zeugnissen und in der Ausgestaltung der Gräber lassen sich erstmals, wie Martin Hengel festgestellt hat, (3) konkretere Hinweise auf Vorstellungen von einer Auferstehung, einem letzten Gericht und dem Schicksal des Menschen nach dem Tode ausmachen. Zudem tragen die Grabausstattungen bis zum Ende der römischen Herrschaft in diesem Raum alle Zeichen eines jüdisch-hellenistischen Synkretismus. Wegen der außerordentlich engen Verflechtung jüdischer und nichtjüdischer Einflüsse im antiken "Judaea-Palaestina", wie sie nicht zuletzt in der Sepulkralkultur sichtbar werden, läßt sich in überaus vielen Fällen gar nicht exakt auseinanderdividieren, ob die Bestatteten nun der jüdischen, heidnischen oder christlichen Religion angehört hatten. Insbesondere die Spätantike ist eine Epoche vielfältiger gegenseitiger religiöser Durchdringung und Wechselwirkung. Entsprechend weit offen gehalten sind deshalb die Kriterien für die Aufnahme bibliographischer Titel in diesem Großkomplex der vorliegenden Zusammenstellung sowie in dem Abschnitt, der den antiken Begräbnisstätten auf dem Boden Jordaniens gewidmet ist. Aus einer solchen Sicht erscheint auch die Aufnahme der zahlreichen Aufsätze und Bücher gerechtfertigt, welche die Begräbnisstätten des Juden Jesus von Nazareth und seiner Mutter Maria thematisieren.

Der Bibliographie ist ein Hauptabschnitt vorangestellt, worin die Literatur zu Sterben, Begräbnis und Trauer unter systematischen Gesichtspunkten geordnet wird. Bewußt wurde dabei auf eine Erfassung und Auflistung der umfangreichen, seit Einführung des Buchdrucks zunächst in hebräischer Sprache erschienenen Trauerliteratur verzichtet. Das betrifft in erster Linie die aschkenasischen Standardgebetbücher, denen häufig diejenigen Bestimmungen und Gebräuche (,dinim" und "minhagim") beigegeben sind, die am Sterbebett, am Grabe und im Trauerhause zu beachten sind. Solche Ritualbücher haben meist unter der Bezeichnung "sefer ha-hayim", "ma'avar yabok" und "ma'aneh lashon" in schier unzähligen Ausgaben über Jahrhunderte hinweg in ständigen Aktualisierungen und bald auch mit Übersetzungen versehen Verbreitung gefunden. Dasselbe gilt für ihre sefardischen Pendants, die vorwiegend unter dem Titel "tsiduk ha-din", "sha'ar ha-hakhana" oder "refuat ha-nefesh" erschienen sind.(4) Eine solche Totalerfassung der gedruckten Ritualbücher wie auch der älteren halachischen Literatur zu diesem Themenkomplex hätte den Rahmen der vorliegenden Zusammenstellung gesprengt. Sie mag weiterführenden bibliographischen Anstrengungen ebenso vorbehalten bleiben wie die bibliographische Registrierung von Trauerpredigten und Trauerreden für einzelne Personen, die nach Ausweis der einschlägigen Kompilationen von Adolf Jellinek (5) und Bernhard Wachstein (6)  vermehrt seit der Emanzipationszeit in Druck gegeben worden sind. Lediglich Mustersammlungen haben in die vorliegende Bibliographie Eingang gefunden. Dies gilt auch für die Anthologien exemplarischer Grabinschriften, d.h. individuelle Inschriften wurden nicht berücksichtigt.

Ein eigenes Unterkapitel ist der Literatur über die alten Memorbücher gewidmet. Die gedruckten Regularien für die moderne Seelenfeier einzelner Gemeinden hingegen erscheinen bei den jeweiligen Orten. Ähnlich verhält es sich mit der Zuordnung der Literatur zur Beerdigungsvereinigung "Chevra kadisha" als religiöser und sozialer Einrichtung einerseits und den Statuten und Ritualordnungen einzelner Vereinigungen andererseits. In vielen Fällen existieren gedruckte Friedhofsordnungen, die häufig nur als Beilagen in den Archiven erhalten geblieben und eher dem Genre der "grauen Literatur" zuzurechnen sind; solche Stücke sind ebenfalls nach Möglichkeit berücksichtigt worden, auch wenn von großen Überlieferungslücken auszugehen ist und gerade hier das Fragmentarische und über weite Strecken Zufällige des Rechercheergebnisses zu konzedieren ist. Bei Beiträgen in hebräischer Sprache werden in der Regel lediglich die nichthebräischen Paralleltitel notiert. Sofern ein solcher nicht vorliegt, sind die hebräischen Originaltitel in Transkription wiedergegeben, und zwar in Anlehnung an die Romanisierungsprinzipien der Library of Congress. (7) Einen wesentlichen Beitrag bei der Überprüfung der in der vorliegenden Bibliographie aufgeführten Transkriptionen aus dem Hebräischen leistete Frau Theda Dämgen (Jüdische Studien, Gerhard Mercator - Universität Duisburg).

Abgesehen von dem systematischen Teil liegt der Bibliographie im wesentlichen ein chronologisches und ein geographisches Grobraster zugrunde. Ein solcher Aufbau lädt dazu ein, Fragen der Kontinuität und Diskontinuität jüdischer Sepulkralkultur über größere Zeiträume hinweg nachzugehen. Auch Gegenüberstellungen und Vergleiche von unterschiedlichen politisch-historischen Räumen bieten sich hier an. Die Einteilung nach den großen Geschichtsepochen Antike, Mittelalter und Neuzeit ist nicht zuletzt arbeitstechnisch begründet. Ähnlich wie die Periodisierung der außerjüdischen Geschichte kontrovers diskutiert wird, ist auch das Einpassen der jüdischen Geschichte in ein solches Schema durchaus problematisch. Sind die jüdischen Gemeinden Siziliens und Unteritaliens (allen voran die Gemeinde in Venusia/Venosa) noch der Antike zuzurechnen oder bereits dem Mittelalter? Wird das Ende des Mittelalters für die jüdische Geschichte um 1500 durch die Vertreibungen von der iberischen Halbinsel und aus den deutschen Reichsstädten markiert oder erst durch das Heraustreten aus dem sozio-kulturellen Ghetto seit der Französischen Revolution? Die Epochenkapitel sind jeweils geographisch nach Kontinenten und weiter nach aktuell existierenden Staaten, Regionen und Orten untergliedert. Der historischen Sonderrolle Judaea-Palaestinas und Jerusalems im Zusammenhang der antiken jüdischen Geschichte ist durch ein Voranstellen in der Epochengliederung Rechnung getragen worden.

Die Bibliographie kann ihren ursprünglichen Ausgangspunkt als Literaturzusammenstellung zum deutschen Judentum nicht verleugnen. Doch nicht allein dadurch erklärt sich der im Vergleich zu anderen Ländern exorbitant überproportionale Anteil von bibliographischen Einträgen, die im Kapitel "Deutschland" zusammengestellt sind. In der quantitativen Verteilung auf die einzelnen Länder widerspiegeln sich bemerkenswerte Ungleichzeitigkeiten des Interesses und des Engagements bei der Beschreibung und Dokumentation jüdischer Sepulkralkultur. So ist seit der weltpolitischen Wende in den 1990er Jahren ein signifikantes Ansteigen in Osteuropa, insbesondere in Polen, zu verzeichnen, während diese Thematik in den arabischen Ländern, einst Kristallisationsgebieten jüdischen Lebens, nach wie vor geradezu ausgeblendet erscheint. (...)

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(1) Die Erfassung der einschlägigen Monographien in der Jerusalemer National- und Universitätsbibliothek verzeichnet lediglich 175 Titel; Mathilde A.Tagger, Printed books on Jewish cemeteries in the Jewish National and University Library in Jerusalem: an annotated bibliography, Jerusalem 1997.

(2) David Noy. Letters out of Judea: Echoes of Israel in Jewish inscriptions from Europe, in: Siân Jones u.a. (Hg.), Jewish local patriotism and self-identification in the Graeco-Roman period, Sheffield 1998, S. 110.

(3) Martin Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., Tübingen 1969, S. 357.

(4) Yeshayahu Vinograd, Thesaurus of the Hebrew Book. Listing of books printed in Hebrew letters since the beginning of Hebrew printing circa 1469 through 1863, Part I: Indexes, Jerusalem 1995; Part II: Places of print, Jerusalem 1993 (hebr.).

(5) Adolf Jellinek, Kuntres ha-maspid. Bibliographie hebräischer Denk und Trauerreden, in: Jubelschrift zum neunzigsten Geburtstag von Dr. L. Zunz. Hg.: Curatorium der Zunz-Stiftung, Berlin 1884, S. 43*-90*(hebr.).

(6) Bernhard Wachstein, Mafteah ha-hespedim. Zur Bibliographie der Gedächtnis- und Trauervorträge in der hebräischen Literatur, 1.-4. Folge, Wien 1922-1932 (hebr. und deutsch).

(7) Paul Eugene Maher, Hebraica cataloging. A guide to ALA/LC romanization and descriptive cataloging, Washington, D.C. 1987.

 

(Auszug aus der Einleitung, ebd., S. 11-14)

 

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