Einführung
Der weitgehend unzerstörte jüdische Friedhof von Georgensgrnünd in Mittelfranken mit seinen fast 1800 erhaltenen Steinen aus fünf Jahrhunderten wurde aus den weit über hundert historischen jüdischen Friedhöfen im heutigen Bayern für eine Inventarisation ausgewählt, weil er einen repräsentativen Querschnitt durch Grabschrift und Grabmalkunst des deutschen ländlich-kleinstädtischen Judentums bietet, wie er nicht oft zu finden ist.
Für die Entzifferung stellten die Photographien der Grabsteine nur eine begrenzte Hilfe dar, da sie, selbst bei günstigem Lichteinfall aufgenommen, den Augenschein nicht ersetzten, um die Schrift einwandfrei lesen zu können.Von den übrigen Hilfsmitteln zur Entzifferung verwitterter Inschriften war das eine oder andere Mal das Übergießen eines Steins rnit Wasser erfolgreich, da dies, besonders beim Trocknen, die Konturen stärker hervortreten ließ und zugleich die Oberfläche schonte. Gelegentlich wurde ein alter Rat erfolgreich befolgt, der in einem 1925 von Berlin aus versandten Merkblatt für die Aufnahme von Grabstein-Inschriften auf jüdischen Friedhöfen gefunden wurde: „Schwer lesbare und verwitterte Stellen können mit dem Finger auf dem Grabstein nachgefühlt werden." Die in der Epigraphik üblichen Methoden der Abreibung und des Abklatsches wurden versuchsweise angewandt. Sie erwiesen sich beim Burgsandstein, aus dem die meisten der Grabmäler des Alten Friedhofs bestehen, wegen dessen starkerVerwitterung und poröser Struktur als unbrauchbar. Bei der anderen in diesem Teil des Friedhofs vertretenen Gesteinssorte, dem Plattenkalk, war wegen dessen geringer Oberflächenverwitterung die Schrift auch ohne Hilfsmittel gut lesbar.
Die Aufnahme der Steine erfolgte zunächst nach einem einfachen Plan, der 1988/89 von dem Heimatforscher Friedrich Glenk (s. u. S. 145) mit einer Schrittvermessung begonnen und vom Verfasser 1992 nach der Methode der einfachen trigonometrischen Vermessung vervollständigt wurde. 1996 erstellte dann das Vermessungsamt Schwabach einen exakten Plan auf der Grundlage einer Tachymetervermessung mit modernem Gerät, bei der die beiden Mittelpunkte der Schmalseiten auf der Oberseite des Steins jeweils als Fixpunkte dienten und die Verbindungslinie beider die Länge des Steins und zugleich seine Position inmitten der übrigen Grabsteine bezeichnete. Dieser Plan bildete forthin die Arbeitsgrundlage; nach ihm wurde die endgültige Nummerierung der Steine vorgenommen. Er ist als Grundplan (Plan Nr.1) und in verschiedenen Ausführungen (Pläne Nrn, 2-4), die unter wechselnden Gesichtspunkten der Belegung - historische Abfolge der Gräber, Herkunftsort und Geschlecht bzw. Stand der Begrabenen - erstellt wurden, dem vorliegenden Band beigefügt.
Eine photographische Aufnahme sämtlicher Grabsteine er folgte bereits im Jahr 1991. In den Jahren 1999-2005 wurden diejenigen Bilder ersetzt,die für eine Publikation ungenügend erschienen. Einige, freilich nur wenige historische Aufnahmen konnten in Archiven aufgefunden werden; sie sind im vorliegenden Band fast ausnahmslos publiziert. Dagegen war es schon aus Platzgründen nicht möglich, alle auf dem Friedhof vorhandenen Grabsteine abzubilden. Das hätte bei deren oftmaliger Einförmigkeit außerdem keinen Gewinn erbracht. Die umfassende Bilddokumentation sämtlicher Steine kann jedoch jederzeit in der umfangreichen Dokumentation des Friedhofs eingesehen werden, die im Photoarchiv des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege aufbewahrt wird. Immerhin konnten im vorliegenden Band rund 600 Grabmäler, ein gutes Drittel des Gesamtbestands, einzeln oder, seltener, in Gruppenaufnahmen abgebildet werden. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass alle für den Friedhof charakteristischen Steine mit wenigstens einem Beispiel und alle einzelnen historisch, kunsthistorisch oder geologisch wichtigen Grabmäler im Bild erscheinen.
Das Vorhaben, den im Katalogteil des Bandes vollständig wiedergegebenen hebräischen Inschriftentexten jeweils eine deutsche Übersetzung beizufügen, wurde bald aufgegeben. Eine solche Übersetzung hätte nicht nur den Umfang eines einzigen Bandes gesprengt, sondern schien bei der Mehrzahl der Inschriften wenig sinnvoll, da sich in ihnen bestimmte Formeln stereotyp wiederholen. Bei einer Anzahl von Texten, vor allem bei den barocken Elegien, die komplexe Kunstwerke darstellen, war dagegen eine philologisch exakte und zugleich dichterisch adäquate Übertragung wiederum nur schwer möglich.
Um die hebräischen Texte dennoch ausreichend zu erschließen, wurde folgender Weg beschritten: Im Katalogteil des Bandes (S.373-680) werden in der Überschrift zu jeder einzelnen Steinaufnahrne jeweils alle geschichtlichen Daten genannt, die sich in der Grabschrift selbst finden, ergänzt durch (in Klammern beigefügte) Angaben aus archivalischen Quellen, vor allem aus den Sterbelisten des 19. Jahrhunderts. Außerdem wurde in den Aufsatzteil des Bandes eine umfassende Untersuchung über „Entwicklung, Sprache und Menschenbild der Grabinschriften" aufgenommen. Diese enthält exemplarische Übersetzungen von rund 50 repräsentativen hebräischen Inschriften, darunter auch Übertragungen von einem guten Dutzend barocker Elegien. Am Ende des Beitrags wird eingehend das spannungsreiche Verhältnis der hebräischen zu den deutschen Inschriften im 19. und 20. Jahrhundert behandelt.
Zusätzlich zu den Angaben in den Überschriften der Steinaufnahmen des Katalogs sind am Ende der Steinbeschreibung in begründeten Einzelfällen kurze Informationen zur Person des Bestatteten angefügt. Eine genealogische Einordnung der Verstorbenen konnte aus Gründen der Arbeitsökonomie und des Bandumfangs nicht vorgenommen werden, obwohl dem Verfasser, jedenfalls für das 19. und 20. Jahrhundert, dafür reichliches Material zur Verfügung gestellt wurde. Sie war auch gar nicht das Ziel der vorliegenden Inventarisation. Diese soll und kann die Familienforschung nicht ersetzen, sondern ihr vielmehr durch die Erschließung der „steinernen Archive" der Grabmäler nach dem oftmaligen Verlust der Archivalien aus Pergament und Papier eine entsprechende Hilfe bieten.
Ein besonderes Problem stellte die Identifizierung der überaus zahlreichen Zitate aus der Traditionsliteratur dar, aus denen die barocken Elegien manchmal geradezu zusammengesetzt erscheinen. Diese Zitate fehlen in kaum einer hebräischen Grabschrift, ohne jedoch jemals im Original als solche kenntlich gemacht zu sein. Sie werden mit ihren Fundstellen in Anmerkungen zum jeweiligen Text genannt, ohne dass dabei Vollständigkeit zu erreichen gewesen wäre. Ein Überblick über die Verwendung aller in den Inschriften festgestellten Zitate konnte aus Raumgründen nicht geboten werden. Es sei jedoch in diesem Zusammenhang auf die Liste von charakteristischen Zitaten aus der Traditionsliteratur verwiesen, die in den Inschriften des Friedhofs oftmals vorkommen und deshalb in den Anmerkungen des Katalogs nicht jeweils einzeln genannt sind (S. 373f.), sowie auf den Exkurs „ Die Nennung biblischer Vorbilder in den Eulogien", der in die Abhandlung über die Entwicklung der Grabinschriften eingefügt ist (S. 281-284).
Verzichtet werden musste auch auf eine Zusammenstellung und Analyse der hebräischen Schrifttypen auf den Grabsteinen. Soweit hier, wie in vielen Fällen aus der älteren Zeit, nicht eine einfache, mehr oder weniger individuelle Blockschrift laienhaft eingehauen wurde, haben die Steinmetze bzw. diejenigen, die ihnen die Vorlagen lieferten, deutlich Formen der hebräischen Kalligraphie auf Papier oder Pergament, vielleicht auch solche des Buchdrucks, übernommen. Da jedoch die Geschichte dieser Schriftformen, die sich im Laufe der Neuzeit beträchtlich wandelten, bis heute nur ungenügend erforscht ist, fehlt eine zureichende Grundlage für die Bestimmung der Buchstabenformen auf den Grabsteinen.
Bei einem Inventarband der Reihe der „Kunstdenkmäler von Bayern" verstand es sich von selbst, dass jeder Grabstein durch eine eingehende kunsthistorische Beschreibung einschließlich einer Einzelvermessung erfasst wurde. Diese Beschreibung der Steine schließt im Katalog jeweils an die Überschrift mit den biographischen Angaben an. Auf ihrer Grundlage wurde dann ein zusammenfassender Beitrag über die „Kunsthistorische Einordnung und Würdigung der Grabsteine" erarbeitet, der als Versuch zu werten ist, da gerade auf dem Gebiet der jüdischen Friedhofskunst bisher nur wenig Vorarbeit geleistet wurde. Dem genannten Artikel folgt eine lnventarisation des Tahará-(Reinigungs-) Hauses von 1723 und der historischen Umfassungsmauern des Friedhofs. Die genannte kunsthistorische Inventarisation der Grabsteine und des Friedhofs wurde von Mitarbeitern des Landesamts vorgenommen, während alle anderen Arbeiten von nicht dem Amt angehörenden Kräften durchgeführt wurden.
Die Inventarisation der Grabmäler erstreckte sich auch auf eine vollständige Erfassung der Gesteine, aus denen sie jeweils bestehen. Die Steinsorte eines Grabmals ist für seinen gegenwärtigen Zustand von Bedeutung, da sie entscheidend den Grad seinerVerwitterung bestimmt. Dann ist die Verwendung verschiedener Gesteine auch von großer sozial- und kulturgeschichtlicher Relevanz, dies bereits im 17. und 18. Jahrhundert, viel mehr jedoch noch in den beiden folgenden Jahrhunderten, in denen an die Stelle einheimischer Materialien eine Vielzahl von Denkmalgesteinen aus anderen Regionen und Ländern tritt. Im Katalog folgt die Bestimmung der Steinsorte unmittelbar auf die kunsthistorische Beschreibung der Steinform. In einem eigenen Beitrag über „Die Denkmalgesteine des jüdischen Friedhofs von Georgensgmünd" wurden dann die Ergebnisse zusammengefasst und hinsichtlich der Herkunft der Gesteine und der vielfältigen Ursachen ihrer wechselnden Verwitterung behandelt.
In einem gesonderten Beitrag werden „Tod, Bestattung und Friedhof im fränkischen Landjudentum" dargestellt, obwohl diese Thematik weit über den Rahmen eines Inventars hinauszureichen scheint. Viele Gegebenheiten des Friedhofs wie etwa die Bedeutung des Grabsteins, die Anordnung der Gräber oder die wichtige Funktion des Taharáhauses sind ohne eine eingehende Erläuterung der weithin unbekannten jüdischen Bestattungsriten kaum zu verstehen. Darüber hinaus ist auch zu beobachten, dass in den zahlreichen in den letzten beiden Jahrzehnten erschienenen Bänden, die jüdische Friedhöfe in Deutschland behandeln, das jüdische Brauchtum in Bezug auf Tod, Bestattung und Trauer nur ganz undifferenziert und ohne den notwendigen Rückgriff auf Quellen dargestellt wird. Es wurde daher versucht, die charakteristischen Züge der jüdischen Bestattungskultur einer Region aus z.T. abgelegener, noch wenig ausgewerteter hebräischer und jüdisch deutscher Literatur vor allem des 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Dabei wurde, als einem von der Volkskunde vernachlässigten Gebiet, auch dem Volksaberglauben der Christen in Bezug auf Tod, Bestattung und Friedhof der ihnen so fremden und damit unheimlichen Juden Aufmerksamkeit gewidmet.
Als notwendiger Bestandteil des Inventars war ein detaillierter geschichtlicher Abriss gefordert, in dem die Umstände der Entstehung und der Entwicklung des Friedhofs über die Jahrhunderte hinweg geschildert werden, da sich daraus seine heutige Gestalt wesentlich erklärt. Sein wechselvolles Schicksal spiegelt zudem in eminenter Weise dasjenige des Judentums in der Region wider. Nachdem sehr viele Originalquellen in Bezug auf die Geschichte des Friedhofs, darunter das Begräbnisbuch und die älteren Akten der Begräbnisgenossenschaften, wohl unwiederbringlich verloren sind, mussten für diese Darstellung Quellen aus weit verstreuten Archiven zusammengesucht werden:
Ausgewertet wurden vor allem die Bestände der Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Auch die jetzt im Archiv des Centrum Judaicum in Berlin zugänglichen Teile des früheren Gesamtarchivs der deutschen Juden erwiesen sich als reichhaltig. Dagegen brachten Nachforschungen im Archiv des Leo Baeck Institute in NewYork und in den Yad Vashem Archives in Jerusalem nur wenige Ergebnisse.
Im Staatsarchiv Nürnberg fanden sich die für die Frühgeschichte des Friedhofs wichtigen Quellen, im Archiv des Landesverbands der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern in München die im I9. Jahrhundert von den jüdischen Gemeinden angelegten Sterbelisten. Mit wechselndem Erfolg wurden die Archive derjenigen mittelfränkischen Orte ausgewertet, deren jüdische Bewohner hauptsächlich auf dem Friedhof beerdigten und die einst alle zum Fürstentum Ansbach gehörten. Dabei handelte es sich um die Ortstarife von Schwabach, Thalmässing, Roth, Georgensgmünd und Windsbach; in Georgensgmünd kam das Archiv des evangelisch-lutherischen Pfarramts hinzu. Zur Klärung der Geschichte der im Herzogtum Pfalz-Neuburg lebenden Juden Hilpoltsteins, die ihre Toten bis 1741 in Georgensgmünd bestatteten und auch deswegen, weil die Leichenzüge der ansbachischen Juden von Thalmässing dieses Territorium auf dem Weg nach Georgensgmünd zu durchqueren hatten, wurden das Bayerische Hauptstaatsarchiv und das Staatsarchiv Amberg aufgesucht. Schließlich wurden dem Verfasser auf einzelne Nachfragen hin wertvolle Nachrichten aus dem Stadtarchiv Ansbach, dem Diözesanarchiv Eichstätt sowie dem Stadt- und dem Pfarrarchiv von Hilpoltstein übermittelt.
Einige Fragen konnten durch Gespräche mit dem 2004 in Israel verstorbenen wohl ältesten früheren jüdischen Bürger Georgensgmünds, Fritz Joseph Heidecker, mit älteren Ortseinwohnern und mit jüdischen Freunden und Bekannten, deren Vorfahren auf dem Friedhof ruhen, geklärt werden. Als wegen der Materialfülle schwer zu erschließende, jedoch unverzichtbare historische Quelle erwiesen sich jüdische Zeitungen und Zeitschriften des 19. und 20. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum. Unter den rund zwanzig vollständig durchgesehenen Periodika befanden sich die „Allgemeine Wochenzeitung des Judentums" und vor allem der „Israelit", das Wochenblatt der deutschen konservativen Juden, das in den Gemeinden, die in Georgensgmünd beerdigten, vorzugsweise gelesen wurde. In ihm fand sich u. a. eine Reihe von wertvollen Nekrologen. Nur mit Hilfe eines solchen Nachrufs war es z. B. möglich, einen Grabstein (Nr. 37), dessen Inschrift heute fehlt, dem Begründer der orthodoxen Sondergemeinde Nürnbergs zuzuweisen.
In einer kurzen Darstellung wird einleitend die Geschichte und Topographie der jüdischen Gemeinden skizziert, die in Georgensgmünd beerdigten, um das historische und geographische Bezugsfeld des Friedhofs in den Blick zu bekommen. Wie schon für die Schilderung der Friedhofsgeschichte konnte auch für diese Darstellung kein Autor gewonnen werden, der auf dem Gebiet der Geschichte des süddeutschen Judentums in der Neuzeit ausgewiesen war. So übernahm der Verfasser, beraten von Fachhistorikern, die beiden Aufgaben.
Die Konzeption des Bandes, die dem gängigen Schema von vergleichbaren in Inventaren behandelten Gegenständen entsprechen sollte, wurde dem Sondercharakter eines jüdischen Friedhofs entsprechend in zahlreichen Details modifiziert und um die genannten Beiträge zu den Steininschriften und den Bestattungsriten ergänzt. Die Anordnung der Einzelbeiträge und die Abfolge der Einzelteile in den Steinaufnahmen des Katalogs wurden vom Herausgeber festgelegt. Formal wurden in dem Band die für die gesamte Reihe geltenden Vorgaben befolgt wie u. a. die Erstellung eines einzigen umfassenden Registers und die Weglassung eines Literaturverzeichnisses - alle mehrfach zitierte Literatur ist im „Abkürzungsverzeichnis" genannt.
Gegenüber allen anderen bisher erschienen Bänden der „Kunstdenkmäler von Bayern", die der christlichen Mehrheitskultur gewidmet sind, weist das vorliegende Inventar dennoch beträchtliche Besonderheiten auf, die sich daraus ergeben, dass es sich hier um die erstmalige Darstellung eines Denkmals der vergangenen jüdischen Sonderkultur Bayerns handelt, deren Schwerpunkt in der Schrift und nicht im Bild liegt, wie dies gerade auch an den Grabsteinen in besonderer Weise sichtbar wird.
(Peter Kuhn / Karlheinz Hemmeter, ebd., S. 9 -11)
(Auszug aus: Egon Johannes Greipl, Generalkonservator, ebd., Vorwort, S. )