Wisenschaften und Kolonialverwaltung
Aus den letztlich erfolglosen Bemühungen der Afrikanischen Gesellschaft, wissenschaftliche und koloniale Ziele miteinander zu vereinbaren, darf nicht automatisch geschlossen werden, dass das Interesse an Forschung auf kolonialem Gebiet außerhalb akademischer Kreise fehlte. Ebenso wenig belegen die trotzdem stattfindenden Forschungsaktivitäten bei gleichzeitiger Kolonialmüdigkeit in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unbedingte Kolonialbegeisterung bei den beteiligten Wissenschaftlern. Ob jedoch wissenschaftliche oder koloniale Interessen bestimmend waren, änderte nichts an der Ansicht der meisten Kolonialinteressierten des 19. Jahrhunderts. Ihnen galt die explorative Reiseforschung als Grundlage jeder kolonialen Erschließung. Seit den 1870er Jahren begann sich die Geographie mit der Errichtung von Lehrstühlen als eigenständige Disziplin an den deutschen Universitäten zu etablieren. Der zweite Lehrstuhl nach dem 1825 gegründeten an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin entstand 1871 in Leipzig. (29) Zu diesem Zeitpunkt entsprachen die Geographen unter allen Wissenschaftlern, die sich mit kolonialen Themen befassten, immer noch am ehesten dem ursprünglichen Bild des Forschungsreisenden. Zu seinen Tätigkeiten zählten die Erfassung und Verzeichnung der naturräumlichen Gegebenheiten des bereisten Landes sowie die Beschreibung der dort lebenden Menschen - auch wenn sich für letzteres mit der Ethnologie etwa zeitgleich eine eigene Disziplin entwickelte. Für die Konsolidierung der deutschen Kolonialherrschaft in den seit 1884 in Besitz genommenen Gebieten wurden gerade diese Tätigkeiten als fundamental erachtet. Matthias Fiedler sieht deshalb "die deutschen Afrikareisenden (...) in einer direkten Kontinuitätslinie zum deutschen Kolonialismus."(30)
In dem "Amtlichen Bericht über die erste Deutsche Kolonial-Ausstellung", die 1896 in Berlin stattfand, hob der für die entsprechende Sektion zuständige Berichterstatter hervor, dass mit der Aufteilung Afrikas unter die europäischen Kolonialmächte das Interesse deutscher Forscher an den Territorien, die nun als "Schutzgebiete" des Deutschen Reichs galten, gestiegen sei. Die bis dato in den betreffenden Gebieten tätigen englischen, französischen und belgischen Kollegen seien aus den deutschen Kolonien verschwunden und umgekehrt, und zwar "mit einem Schlage".(31) Vordergründig scheint die Behauptung eines derartigen Umbruchs der erwähnten Erkenntnis zu widersprechen, dass etwa die deutsch-britischen Wissenschaftsbeziehungen auf kolonialem Gebiet eher von Kontinuität geprägt waren. Doch der in dem Bericht angesprochene Typus des Wissenschaftlers sei der "eigentliche Forschungsreisende", dessen vielgestaltige Aufgaben sich nach wie vor weitgehend mit den eben skizzierten des Geographen deckten. Nicht von diesem personellen Umbruch betroffen gewesen seien dagegen spezialisierte Wissenschaftler, wie zum Beispiel Zoologen und Botaniker, die für ihre Einzelstudien auch weiterhin Zugang zu den jeweils fremden Kolonien gehabt hätten.(32) Offensichtlich hatte die mehr als zehn Jahre vor dem "Erwerb" der ersten "Schutzgebiete" eingeleitete Eingliederung der Geographie in die deutsche Universitätslandschaft die koloniale Forschungspraxis auch kurz vor der Jahrhundertwende noch nicht entscheidend verändert.
Der Berichterstatter sprach davon, dass die ersten Jahre der deutschen Kolonialherrschaft "keineswegs durch eine rege und sorgfältige Forschungstätigkeit ausgezeichnet" gewesen seien. Die Forschung habe sich überwiegnd auf die bereits bekannten Küstenregionen der afrikanischen Kolonien beschränkt. "Die Zeit für ein Detailstudium war noch nicht gekommen, und wissenschaftliche Bestrebungen mussten hinter praktische Ziele zurücktreten."(33) Bei den angeblich "mit einem Schlage" in den Kolonien tätigen Forschungsreisenden handelte es sich außerdem zumeist gar nicht um Wissenschaftler, sondern um Offiziere oder Beamte, deren amateurhafte Vermessungen häufig zu wünschen übrig ließen. Die auf ihren Angaben basierenden Karten waren demnach lediglich "Versuche von Annäherung an die Wirklichkeit. Der Schätzung, der mehr oder minder grossen Geübtheit des Reisenden, der Willkür ist ein zu grosser Spielraum gelassen."(34) Die Kartographie als Spezialdisziplin nahm ganz allgemein eine Schlüsselstellung ein, da sie sowohl für rein wissenschaftliche als auch für rein militärische Zwecke von Belang war. Als besonders imposantes Beispiel stellte sich den deutschen kolonialen Nachzüglern das britische Projekt einer kartographischen Erfassung Indiens dar. Der Great Trigonometrical Survey of India hatte Vorläufer im 18. Jahrhundert und entwickelte sich über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus zum kartographischen Großunternehmen, das 1878 mit der Gründung einer permanenten Koordinierungseinrichtung institutionalisiert wurde. Das angestrebte Ideal eines "single, complete, truthful, and ordered archive of geographical knowledge for their empire" erreichten die britischen Wissenschaftler alledings nicht, da eine lückenlose Vermessung des gesamten Subkontinents in der Praxis nicht umzusetzen war.(35) Bemerkenswerterweise hatte mit dem Atillerieoffizier George Everest auch der bekannteste Leiter des Prestigeprojekts zwischen 1823 und 1843 einen militärischen Hintergrund.(38) Der Bericht zur Kolonialausstellung von 1896 geht nur von einer langsamen Verbesserung der deutschen Ergebnisse aus. Kritikwürdig sei in diesem Zusammenhang ferner der geringe Bekanntheitsgrad der Aktivitäten in der deutschen Öffentlichkeit und besonders in der Fachwelt. Nur so sei es zu erklären, dass eine geographische Gesellschaft eine Auszeichnung für eine ausländische Forschungsarbeit vergeben habe, ohne entsprechende deutsche Studien überhaupt zu nominieren.(37) Was nicht explizit formuliert wurde, aus den Schilderungen des Berichts jedoch deutlich hervorgeht, war der Umstand, dass seit 1884 Forschung und Herrschaftsausübung beziehungsweise Verwaltung häufig den gleichen Personen oblagen. Der Forschungsreisende aus der Mitte des Jahrhunderts war zum Kolonisator geworden, verfügte jedoch weiterhin weder über eine wissenschaftliche Spezialisierung noch über ein erprobtes Handwerkszeug für die Kolonialverwaltung.
Als der Bericht über die Kolonialausstellung im Jahre 1897 veröffentlicht wurde, war der Prozess der kolonialen Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter die europäischen Mächte bereits abgeschlossen. Von einer Popularität der "Schutzgebiete" konnte im Kaiserreich zu diesemZeitpunkt keine Rede sein. Der "Fall Peters" und die Kolonialskandale jener Jahre, zuvor noch der misslungene Versuch zur "Rettung" Emin Paschas, der als Beschädigung der deutschen Position in Afrika aufgefasst wurde, warfen vielmehr ein düsteres Licht auf die überseeischen Besitzungen und ließen viele am Sinn des kolonialen Engagements zweifeln. Diese Kolonialmüdigkeit war für die Kolonialinteressierten in Wirtschaft und Verbänden, allen voran die Deutsche Kolonialgesellschaft, einer der wichtigsten Gründe für die Veranstaltung der Kolonial-Ausstellung im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung. Um die Besucher für die Kolonien zu begeistern, wurde die Kolonisation als Aufgabe von nationalem Rang vorgestellt, und "eine Art koloniale Logistik, die Herstellung und Präsentation eines Modells der verwaltenden Ordnung von Heimat und Kolonie, Besitzern und Besitztümern, Weißen und Schwarzen heimatlicher Scholle und afrikanischer Steppe" dargeboten.Die Veranstalter wollten die Besucher von der Machbarkeit und dem Sinn des deutschen kolonialen Engagements überzeugen.(38)
Der zitierte Amtliche Bericht postuliert natürlich die Notwendigkeit einer intensiveren Erforschung der Kolonien, bemüht sich aber andererseits auch um die Präsentation bereits erzielter Ergebnisse aus verschiedenen Disziplinen. Der kolonialpropagandistische Charakter der Publikation steht im Vordergrund, und obschon sie explizit einen wissenschaftlichen Teil, der fast die Hälfte des Werkes ausmacht, verzeichnet, betont der Verfasser der Einleitung Gustav Meinecke in erster Linie die gängigen wirtschaftlichen und politischen Argumente bei der "Lösung des kolonialen Problems":
"(...) was in Europa Grossmacht ist und war, das ist auch Kolonialmacht, sei nun die Kolonie in Bosnien oder Indien. Die Ausbreitung der eigenen Kapitalmacht und der in Erwerbungsunternehmen zu verwandelnden Kulturkräfte, welche in Intelligenz und Arbeitsfähigkeit sich zeigen, wurde die Parole der Generation, welche auf den Schlachtfeldern herangereift war. Dieser Gedanke trat immer klarer hervor neben dem bisweilen übertrieben betonten, aber durchaus richtigen Gefühl, dass eine jede koloniale Ausbreitung nicht allein durch die Erfordernisse des Handels und der Industrie geboten erscheine, sondern ein Gebot nationaler und kultureller Pflicht sei."(39)
Die angesprochenen Amateurforscher bildeten in den ersten Jahren der deutschen Kolonialherrschaft einen bedeutenden Teil der vom Reich für die Verwaltung der neuen Kolonien entsandten Personen. Viele von ihnen hatten wie Gustav Nachtigal oder Gerhard Rohlfs Medizin oder Naturwissenschaften studiert und verfügten durchaus über die Fähigkeit, wissenschaftlich brauchbare Informationen zu sammeln.(40) Ein größerer Teil bestand aus Berufssoldaten und besaß ebenfalls bestimmte Fertigkeiten, wie kartographische oder technische Kenntnisse, die bei der Akkumulation von Wissen über die kolonialen Gebiete hilfreich sein konnten.(41) Insgesamt jedoch waren die Kolonisatoren auf die neue Situation nicht vorbereitet. Weder die Offiziere noch die unspezialisierten Forschungsreisenden, noch die Vertreter etablierter Wissenschaften waren Verwaltungsfachkräfte. Umfang und Zusammensetzung dieser heterogenen Gruppe ergaben sich aus den lokalen Gegebenheiten, etwa aus der militärischen Lage. Ihre Mitglieder übernahmen nur deshalb Verwaltungsaufgaben, weil sie durch die eigentliche Tätigkeit vor Ort den Beamten im Reich koloniale Erfahrung voraushatten.(42) Unter diesen Umständen entstand zunächst weder eine reguläre Kolonialbeamtenschaft noch eine umfassende Forschungstätigkeit. Beides blieb bis zur Jahrhundertwende unterentwickelt, die Beziehungen zwischen Verwaltungs- und Wissenschaftssektor verliefen zumeist unkoordiniert und die Ergebnisse der kolonialen Forschung wurden der Verwaltung nur langsam nutzbar gemacht.
Da konnten auch die veröffentlichten Ratschläge erfahrener Afrikareisender kaum Abhilfe schaffen, auch wenn diese im Einzelnen vor allem die Verhältnisse in Afrika ausgesprochen realistisch beschrieben. Einige Ratgeber enthielten fundierte und anwendungsorientierte Schilderungen und Hinweise, blieben jedoch in dieser Form zu dieser Zeit Ausnahmen. Die 1889 publizierten "Vorschläge zu einer Reiseausrüstung für Ost- und Centralafrika" von Paul Reichard zählten ebenso dazu wie die von Georg von Neumayer herausgegebene "Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen", die erstmals bereits 1875 und in einer zweiten Auflage 1906 erschien.(43) Die Unerfahrenheit der Kolonisatoren war dabei nur ein Faktor für die schleppende Ansannlung kolonialen Wissens, ganz gleich ob rein praktischer oder wissenschaftlicher Natur. Mindestens ebenso entscheidend war die simple Tatsache, dass die Zahl der Verwaltungskräfte in den Kolonien bis zur Jahrhundertwende äußerst gering blieb. Als beispielsweise im April 1885 der Landgerichtsrat Heinrich Göring als erster Reichskommissar - Gouverneur war noch nicht die offiziele Bezeichnung - in Südwestafrika eintraf, war er zunächst in Begleitung von lediglich zwei weiteren Beamten.(44) Ohne Schutztruppen und Polizei umfasste das zivile Personal der Gouvernements von Togo, Kamerun, Südwest- und Ostafrika noch im Jahr 1901 nur 35 höhere und mittlere und 134 niedere und technische Beamte. Auch im Verhältnis zu anderen Kolonialmächten war dieser Personalbestand klein.(45) (...)
Somit standen Kolonialverwaltung und Kolonialwissenschaft bis zur Jahrhundertwende in einer losen Beziehung zueinander. Die ersten deutschen Kolonisatoren trugen eine Menge breit gestreuter Erkenntnisse, aber wenig Spezifisches zur Ausbildung kolonialer Wissenschaften bei. Auch wenn ein Teil von ihnen durchaus zum wissenschaftlichen Arbeiten befähigt war, bestand doch ihre Hauptaufgabe in der Verwaltung der zu großen Teilen noch unkontrollierten "Schutzgebiete". Bis 1900 fehlte den meisten von ihnen allerdings auch dafür das Spezialwissen fast völlig. Parallel zum langsamen Aufbau der Verwaltungsstrukturen vollzog sich die weitere Etablierung der Geographie als einer eigenständigen Wissenschaft. Solange beide Bereiche noch nicht fest umrissen waren, gab es bei Personen und Aufgaben zahlreiche Überschneidungen. Die frühen Kolonisatoren glichen zunächst noch oft den "klassischen" Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts. Für einige von ihnen war vielleicht sogar ein Krreuzungspunkt vorstellbar, von dem aus der weitere Weg entweder in die Kolonialverwaltung oder in die geographische Wissenschaft führte. Daneben traten jedoch bereits punktuell Wissenschaftler etablierter Disziplinen auf den Plan, um sich die Kolonien für ihre spezialisierte Forschung zunutze zu machen. Das deutsche Kolonialreich stellte damit allerdings keine Besonderheit dar; Pesek konstatiert allgemein, dass europäische Forschungsreisende stets die erste Gruppe von Kolonisatoren bildeten, die "mehr und mehr in institutionelle und staatiche Rahmen eingebunden" wurden.(53) Die Forschungsreisenden gingen sowohl der wissenschaftlichen als auch kolonial-staatlichen Institutionalisierung voran. Dabei darf davon ausgegangen werden, dass viele von ihnen sich von ihrer Indienstnahme für Zwecke der kolonialenVerwaltung eine Beförderung der eigenen wissenschaftlichen Vorhaben versprachen und diese Absicht auch in die Tat umsetzen konnten.(54)
(Auszug aus Kap. 2.1.2: Wissenschaften und Kolonialverwaltung, ebd., S. 24-27, 29)