Migration und Kultur
Über dieses Buch
Migration, Kultur, Identität lädt uns auf eine Reise ein, die in die Verstörung und Verschiebung von Geschichte, Kultur und Identität führt, der wir uns alle gegenübersehen, um zu untersuchen, wie Migration, Randdasein und Obdachlosigkeit den Glauben des Westens an linearen Fortschritt und rationales Denken gebrochen und damit unser Wissen und unsere kulturelle Identität unterminiert haben. Im Zentrum des Bandes steht eine Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen im Bereich der Kultur und der Gesellschaft, etwa die sukzessive Auflösung und Infragestellung eines einheitlichen Begriffs von Geschichte, ästhetischer Wahrnehmung oder politischer Identität. Fortschreitende Migrationsbewegungen, die damit zusammenhängende Marginalisierung und der Verlust von "Heimatbewußtsein" charakterisieren aus der Sicht derzeitiger globaler Entwicklungen zunehmend das westliche Bewußtsein.
Die gebrochene Welt: wessen Zentrum, wessen Peripherie?
Three crows flap for the trees,
And settle, creaking the eucalyptus boughs.
A smell of dead limes quickens in the nose
The leprosy of Empire
DEREK WALCOTT(1)
... wenn, wie ich gesagt habe, der Akt kultureller Übertragung (als Repräsentation wie als Reproduktion) den Essentialismus einer vorher bestehenden, originären Kultur in Abrede stellt, dann erkennen wir, daß alle Formen von Kultur sich in einem andauernden Prozeß der Hybridität, der Kreuzung und Vermischung, befinden. Für mich liegt die Bedeutung der Hybridität jedoch nicht darin, daß man sie auf zwei Ursprungselemente zurückführen könnte, aus denen das dritte entsteht, vielmehr ist die Hybridität für mich der "dritte Raum", aus dem heraus andere Positionen entstehen können.
HOMI K. BHABHA(2)
... die Existenz der postkolonialen Literatur sprengt die bloße Vorstellung der englischen Literatur als einer Studie, die ihre eigenen spezifischen, nationalen, kulturellen und politischen Grundlagen verschweigt und sich als ein neues System für die Entwicklung "universaler" Werte darstellt.
BILL ASHCROFT, GARETH GRIFFITHS AND HELEN TIFFIN(3)
Was würde aus dem Logozentrismus werden, aus den großen philosophischen Systemen, aus der Ordnung der Welt im allgemeinen, sollte der Fels, auf dem diese Religion gegründet wurde, bröckeln?
HÉLÈNE CIXOUS(4)
Klänge, Stimmen und Sprachen sind immer ortsgebunden. Die einführenden Zitate, die aus der früher ignorierten Peripherie stammen: aus der Karibik, aus Indien, Australien und Algerien, werfen in unserer postkolonialen Epoche für die Phänomene Sprache, Macht und "Englisch" grundlegende Fragen auf. Diese ergeben sich aus dem Zusammenbruch der britischen (und westlichen) Kultur, der herbeigeführt wurde durch den Druck, den die Bewohner mit den anderen Stimmen, Vorgeschichten und Erfahrungen auf sie ausüb(t)en. Bei den realen und imaginären Reisen, welche die modernen Karten und Kulturen in der Metropole ermöglichen, tauchen musikalische und sprachliche Inseln auf, die eine Reihe von Identitäten schaffen, die auf sehr unterschiedlichen Seins- und Zeitrhythmen aufbauen. Die Akzente des Empire kehren in den Stimmen der postkolonialen Untertanen wieder, die aus der Peripherie anreisen und sich im Zentrum entfalten. Sie finden ihren Ausdruck in einem kulturüberschreitenden Kosmopolitismus, der die ehemals verheimlichten Geschichten des schwarzen Amerika und der Diaspora des Empire nach der Grammatik der modernen nomadisierenden Identitäten umarbeitet und neu schreibt. Belege dafür finden sich etwa in den bemerkenswerten literarischen Reisen von Derek Walcott und Salman Rushdie; der bewußt entorteten dub poetry von Big Youth, Michael Smith und Linton Kwesi Johnson; im tropischen Gebrauch von Reise und Verwandlung, der ganz zentral ist für die neueren Literaturen schwarzer Frauen in den Vereinigten Staaten und der Karibik; in der eher lokalen Prägung der postrealistischen schwarzen, britischen Kinematographie und Photographie; sowie in der allgegenwärtigen, weltweiten Mobilität schwarzer elektronischer Rhythmen.(5) Diese ehemals untergeordnete Syntax ist das Ergebnis einer "erzwungenen Poetik", die aus dem Gefängnis der Sklaverei, des Rassismus und des Kolonialismus ausgebrochen ist. Sie enthüllt "die verdrängte, surrealistische Erfahrung und Empfindung", die ein Teil der standardisierten Stereotypen der englischen Sprache und Literatur sowie der eurozentristischen Kulturen sind.(6) Diesen besonderen Moment zeichnet das aus, was die französische Kritikerin Christine Buci-Glucksmann in ihrem Kommentar zu Benjamins berühmten Meditationen über Paul Klees "Angelus Novus" - den Engel der Geschichte - einen "Augenblick zeitlicher Intensität" nannte. Bei diesem Ereignis kommt es zu einem Bruch in der Zeit: einem Innehalten, das eine politische und erkenntnistheoretische Wende in der Geschichte der ursprünglich Besiegten erlaubt.(7)
Um konkreter zu werden: Zu den Zeichen, die mich dazu ermutigen, von diesem Bruch in der Zeit und vom Auftreten einer "anderen", schwarzen Semantik und Syntax zu sprechen, zähle ich unter anderem die zunehmende Verbreitung einer bestimmten schwarzen britischen Großstadtästhetik, die den Fragen der postkolonialen Kultur und Identität eine spezifische Form und Richtung gibt.(8) Bei den bildenden Künsten sei auf die umstrittene, doch wegweisende Ausstellung The Other Story von 1900 in der Hayward Gallery hingewiesen; beim Film auf das Black Audio Film Collective mir Handsworth Songs (1986), Sankofa mit Territories (1984), The Passion of Remembrance (1986) und Looking for Langston (1989) sowie auf Isaac Juliens Young Soul Rebels (1991); bei der Popmusik auf die extensive Kreolisierung mehrerer schwarzer Musiktraditionen durch Soul Il Soul und die Young Disciples; bei der Literatur- und Kunstkritik auf die Zeitschrift Third Text; und bei der Literatur, abgesehen von Salman Rushdie, dem deutlichsten Beispiel, auf die komische Schilderung kultureller Hyhridität in Hanif Kureishis "The Buddha of Suburbia, die denkwürdigen Zeugnisse der farbigen Frauen in Charting the Journey und V. S. Naipauls erschütternde Biographie The Enigma of Arrival. Dieses Buch ist eine Umkehrung der Empire-Narration und führt uns zum Geheimnis, das im heart of darkness der Moderne liegt und uns nicht mehr im Kongo erwartet, sondern in Stonehenge, auf den windigen Salisbury Plains, im alten Herzen des Empire - dem Schauplatz von William Blakes Jerusalem ("Albion's druidy shore") und "anderer unaussprechlicher Rituale."(9) All diese Worte, Bilder, Klänge, Stimmen "lassen bestimmte, bisher unbeachtete, doch aufregende Wege im Bereich der Traditionen entstehen, kulturüberschreitenden Möglichkeiten für eine wirkliche Veränderung in den Gemeinschaften, die von komplexen Gefahren bedroht werden und deren Vorgeschichten verschieden sind"(10). Durch dieses Material ermutigt, möchte ich mir nun einige der einander überlappenden Perspektiven genauer anschauen, welche sich aus einer Reihe von umfassenderen Strömungen und Fragen ergeben haben, die durch Postkolonialismus, Feminismus und schwarze Intellektuelle ausgelost wurden und heute die etablierten Anschauungen ganz entschieden aufbrechen, um einem neuen kritischen Horizont Gestalt zu geben. (...)
(Auszug aus Kap. 5: Die gebrochene Welt: wessen Zentrum, wessen Peripherie?, ebd., S. 78-81)