Erinnerungen
Fünf Deutschland und ein Leben
Die "deutsche Frage" wirft ihren Schatten auf die moderne Welt: Wie war es möglich, daß eine so zivilisierte Nation für das schrecklichste Verbrechen des 20. Jahrhunderts verantwortlich wurde? Fritz Stern betrachtet diese Frage durch das Prisma seines eigenen Lebens: Geboren in der Zeit der Weimarer Republik, fünf Jahre als jüdisches Kind dem Nationalsozialismus ausgesetzt und dann seit 1938 in den Vereinigten Staaten lebend, ist Stern ein weltbekannter Historiker geworden, der wie kaum ein anderer zwischen Amerika und Europa vermittelt und die Bundesrepublik mit intellektuellem Engagement begleitet hat.
"Fritz Sterns Buch zeigt einmal mehr, daß er ein Meisterhistoriker des zeitgenössischen Deutschland ist, involvierter Beobachter seiner kulturellen und politischen Entwicklung, und zugleich ein anregender Erzähler des eigenen Lebens mit seinen vielen gelehrten und öffentlichen Facetten."
Saul Friedländer
Fritz Sterns Erinnerungen
"Die Erinnerungen von Fritz Stern sind für uns ein menschliches und politisches Lehrbuch ohnegleichen. Es ist eine bewegende Geschichte des Lebens und des Landes."
Richard von Weizsäcker
"Ein weises und tief berührendes Buch der Erinnerung, zugleich ein brillanter Führer durch Deutschland in den letzten 75 Jahren."
Louis Begley
Fritz Stern
Aus dem Inhalt
Deutsche Themen in fremden Ländern
"Die Welten der Verweigerung und des Widerstandes haben mich seit jeher stark und unmittelbar interessiert, in der deutschen Vergangenheit ebenso wie in der politischen Gegenwart. Seit Jahren hatte ich mich mit beiden aud die eine oder andere Weise befaßt. Der Kampf gegen die Unterdrückung war in den siebziger und achtziger Jahren in vielen Ländern mit unterschiedlichem Erfolg geführt worden; im Zusammenhang mit den wachsenden Protesten drohte es hier und da zu internationalen Konflikten zu kommen, die den Protest überschatteten. Bewegt von den Gefahren, vor denen die Protestbewegungen standen, hatte ich das Glück, mehr über diese internationalen Konflikte zu erfahren. Das aktuelle Geschehen veranlaßte mich, es im Lichte der historischen Vergangenheit zu betrachten, und meine Erfahrung mit dem Nationalsozialismus beflügelte den Antrieb, selbst etwas zu tun. Ehrgeiz und Ungeduld taten ein übriges.
Meine Sorgen und meine Überlegungen zu der weltpolitischen Zäsur, die der Jom-Kippur-Krieg bedeutete, flossen ein in den Essay "The End of the Postwar Era", der mir den Weg zu einem unerwarteten Abenteuer eröffnete, zu Reisen in Länder, die ich bisher nicht kannte, wo neue Eindrücke und alte Themen sich gegenseitig erhellten. Immer wieder stellte ich fest, daß die Lehren aus der deutschen Vergangenheit in allen Teilen der Welt ihre eigene Resonanz hatten. Durch die Reisen, die ich zwischen 1977 und 1981 immer wieder unternahm, wurde ich, wie Raymond Aron es ausdrückte, "un spectateur engagé".
Nach dem Abschluß von Gold und Eisen - meiner sechzehnjährigen Vertiefung in die Politik und Finanzen Europas, die deutsche Einigung (1871) und die neue Machtposition, den Aufstieg der europäischen Juden und die neue Feindseligkeit gegen sie - wollte ich etwas Neues beginnen, mit anderem Tempo. Ich erinnere mich, daß McGeorge Bundy sich für meine Gedanken über "die Nachkriegszeit" interessiert hatte, und schlug der Ford Foundation eine Untersuchung über die Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonien Europas und dem heutigen Europa vor. Ich wollte sehen, ob persönliche Eindrücke und sorgfältig geplante Gespräche bei diesem Projekt nicht die Archive ersetzen könnten. Vielleicht fühlte ich mich in meinem unorthodoxen Vorhaben durch Hugh Seton-Watson ermutigt, den Freund und klugen Historiker, der in einem seiner ersten Bücher über Osteuropa erklärt hatte: "Meine Quellen waren hauptsächlich Menschen. Gespräche mit Männern und Frauen aus den einzelnen Ländern, die unterschiedlicher politischer Ansicht und sozialer Herkunft sind, vermitteln einem in gewisser Hinsicht ein besseres Bild als das Studium von Dokumenten." Hugh, mit einer scharfen Beobachtungs- und Urteilsgabe gesegnet, reiste überallhin, wo außergewöhnliche Vögel und Menschen zu beobachten waren: Ihn reizte das Exotische an Mensch und Tier.
Ich hatte immer auf der "Europäisierung" der deutschen Geschichte bestanden, aber irgendwann begriff ich, daß ich möglicherweise allzu eurozentristisch war. Auf jeden Fall wurde mir klar, daß Europas Weltrang abnahm, trotz der Bildung der Europäischen Gemeinschaft, einer historischen Errungenschaft, die aus der Erkenntnis der Selbstzerstörung Europas in zwei Weltkriegen erwachsen war. Der Halbkontinent war abhängig geworden von den Vereinigten Staaten, bedroht von der Sowjetunion und herausgefordert von der "dritten Welt". Europa sei "im Urlaub", sagte ich. Und da die Kluft zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern - das erkannte man - nicht schmaler, sondern bedrohlich größer wurde, bat der damalige Weltbankchef Robert McNamara 1977 Willy Brandt, eine internationale Kommission aus führenden Vertretern von "Nord" und "Süd" zu bilden, die Reformen vorschlagen sollte. Die weisen "Kommentatoren unserer Weltläufte", immer mobiler geworden, flogen derweil zu dreitägigen internationalen Konferenzen über die brennenden Fragen des Tages wie etwa die "Ost-West-Beziehungen" in Luxushotels - an einigen nahm ich selbst teil.
Ich wollte mir aber aus einer anderen Perspektive ein Bild von Europa und seiner Bedeutung in der Welt machen. Wie wurde es von Völkern wahrgenommen, die zuvor zutiefst ambivalente Beziehungen zu den Kolonialmächten gehabt hatten? Ich war neugierig auf die Welten, die ich nicht kannte, und schon während des Studiums war mein Appetit angeregt worden durch Veranstaltungen über "Europas Expansion in Übersee", ein äußerst umstrittenes Thema von größter Tragweite, das die schärfsten Kontroversen auslöste. In meinen Vorlesungen hatte ich seit Jahren darauf hingewiesen, daß die Erfahrung der europäischen Herrschaft in Übersee einer ausgewogenen Beurteilungen bedürfe; die grobschlächtige Arroganz der einstigen Herrscher dürfe nicht ersetzt werden durch einen grob vereinfachenden Antikolonialismus oder liberale Selbstanklage. Die Europäer hatten mit beispielloser Brutalität gehaust, bemäntelt mit rassistischem Geschwätz und Scheinheiligkeit, und zu den Kennzeichen des Imperialismus hatten Terror und Ausbeutung gehört; aber ohne diese vergessen zu machen, müsse doch zugleich auf die nun teilweise übergangenen positiven Wirkungen der europäischen Präsenz in der Welt hingewiesen werden. Außerdem wollte ich herausfinden, wie die jüngeren weltgeschichtlichen Prozesse der Nachkriegszeit, die Entkolonialisierung und die Integration Westeuropas, sachlich und zeitlich zusammenhingen.
Die Ford Foundation ermöglichte mein Projekt, und Columbia gewährte mir achtzehn Monate unbezahlten Urlaub ab Januar 1977, genau in der Zeit, als Jimmy Carter Gerald Ford als Präsidenten ablöste. (Kissinger als scheidender Außenminister und Zbigniew Brzezinski als künftiger nationaler Sicherheitsberater versahen mich mit generösen Einführungsschreiben.) Ich genoß die Reisevorbereitungen, versuchte mich, wenn auch nur flüchtig, mit mir unvertrauten Sachgebieten bekannt zu machen und zog Freunde und Experten zu Rate. Der Anthropologe Clifford Geertz rief angesichts meiner geplanten Reiseroute aus: "Und das wichtigste Land haben Sie ausgelassen: Indonesien! Ich setzte es rasch auf die Liste. Die Ford Foundation stellte nicht nur materielle und logistische Unterstützung bereit, sondern auch einen Brief von Bundy, der mir viele Türen öffnete. Andere überschütteten mich mit Namen und Kontaktadressen, darunter auch Bankiers, die ich über Gold und Eisen kennengelernt hatte.
Also begaben Peggy und ich uns im April auf eine Reise um die Welt, die in Algier begann und in Tokio endete; im weiteren Jahresverlauf besuchten wir Argentinien, Brasilien und Kolumbien. Noch wichtiger für meine Arbeit als Deutschlandhistoriker waren spätere Reisen unter anderen Auspizien, die mich in die Sowjetunion, noch Polen und China führten, wo ich zu deutsch-europäischen Themen Vorträge hielt. Auf jeder Station erhielt ich erste Instruktionen von den örtlichen Vertretern der Ford Foundation (was für tüchtige Leute!) und Botschaftsangehörigen (mit wechselnden Ergebnissen). Auch mit Vertretern Deutschlands traf ich mich, offiziell und privat. Ich führte das Leben eines Journalisten oder eines verhinderten Diplomaten, hastete herum und trug gewissermaßen Punkte aus den entlegensten Bereichen zusammen, zwischen denen sich manchmal eine überraschende Verbindung ergab.
Hatte ich gedacht, ich würde es hauptsächlich mit politischen Zuständen zu tun haben, so beschäftigte ich mich schließlich vor allem mit universalen Fragen der politischen Freiheit, der Repression und des Widerstandes, alten Formen der Unterdrückung und neuen Formen des Autoritarismus. Ich glaubte erneut, Echos aus meiner Kindheit zu vernehmen. Seit Jahrzehnten hatte ich in Freiheit gelebt, und die Erfahrung, Länder zu besuchen, in den die Freiheit verbannt oder bedroht war, setzten einen wechselseitigen Prozeß in Gang: Ich sah diese bisher unbekannten Länder mit deutschen Augen, und diese Länder ließen mich wiederum die deutsche Vergangenheit besser verstehen. (...) "
(Auszug aus Kap. 8 : "Deutsche Themen in fremden Ländern", ebd., S. 436-439)