Reiner Stach: Kafka
Der Abschluss der Grossen Kafka Biographie
1883 bis 1911
Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts konnte noch niemand erahnen, doch Kafkas frühe Jahre waren durchaus keine friedliche Epoche. Neue Medien und Technologien tauchten auf, Autos, Fließbänder und Telefone beschleunigten den Alltag, und 'Nervosität' wurde zum Schlagwort der Zeit. Darüber hinaus erlebte Kafka in Prag heftige nationale Spannungen, die sich gewaltsam entluden und die auch das jüdische Leben gefährdeten. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, wie sich der empfindsame Kafka unter solchen Umständen den Weg zu geistiger Selbständigkeit und literarischer Produktivität erkämpft - gegen die Erwartungen seiner Familie und, wenn es sein muss, auch gegen den Ratschlag von Feunden. Er braucht länger als alle anderen, um 'erwachsen' zu werden, und er entdeckt, als es so weit ist, eine unermessliche Welt in sich selbst.
Stachs Schilderung ist atmosphärisch dicht und bietet Panoramablicke über Kafkas Welt ebenso wie Nahaufnahmen aus seinem Alltag, wobei auch neueste, bisher unveröffentlichte Forschungsergebnisse aufgenommen werden. Die bildhafte Erzählweise, die den Leser alle Entscheidungssituationen fast filmisch miterleben lässt, setzt neue Maßstäbe in der deutschsprachigen Biographik.
»Das Beste, was in diesem Genre hervorgebracht werden kann. Selbst ein Roman.« Imre Kertész
Nach den fulminant gefeierten ersten zwei Bänden seiner Kafka-Biographie schließt Reiner Stach sein großes Werk mit Kafkas Kindheit und Jugend, Studium und ersten Berufsjahren ab. Die Entfaltung von Kafkas Sprachtalent, seine Bildungserlebnisse, die Reifung seiner Sexualität und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit neuen Technologien und Medien sind die entscheidenden Wegmarken. Reiner Stachs Kafka-Biographie genießt schon jetzt den Ruf eines internationalen Standardwerks, das die Möglichkeiten der literarischen Biographie neu ausgelotet hat. Erneut bietet Reiner Stach ein erzählerisch dichtes und farbiges Panorama der Zeit und zugleich die einfühlsame Studie eines außergewöhnlichen Menschen.
Das Gesamtwerk:
Kafka. Die frühen Jahre (1883 - 1910)
Kafka. Die Jahre der Entscheidung (1910 - 1915)
Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (1916 - 1924)
Über Reiner Stach
Geboren 1951 in Rochlitz (Sachsen), arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Mathematik und anschließender Promotion zunächst als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern.
1987 erschien seine Monographie 'Kafkas erotischer Mythos'. 1999 gestaltete Stach die Ausstellung 'Kafkas Braut', in der er den Nachlass Felice Bauers präsentierte, den er in den USA entdeckt hatte. 2002 und 2008 erschienen die ersten beiden Bände der hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie. 2008 wurde Reiner Stach für 'Kafka: Die Jahre der Erkenntnis' mit dem Sonderpreis zum Heimito-vonDoderer-Literaturpreis ausgezeichnet.
'Dank seiner unermüdlichen Gelehrsamkeit, seines immensen Einfühlungsvermögens und seines leidenschaftlich-gewandten Stils gelingt es Stach, zu vermitteln, woie es gewesen ist, Franz Kafka zu sein'
John Banville, The New York Review of Books
Einblicke in die "Frühen Jahre"
Landung in Brescia
(...)
Besonders lebhaft und detailgenau berichteten die Prager Reporter natürlich über die Hauptsache, um derentwillen so viele Menschen hier überhaupt angereist waren: den Auftritt des Kanalfliegers. "Und Blériot? fragen wir", fragt Kafka. "Blériot, an den wir die ganze Zeit über dachten, wo ist Blériot?" Der war schon von weitem zu erkennen an seiner Habichtsnase und seinem weit herabhängenden Schnauzbart; eine kleinbürgerliche, wenig elegante Gestalt in blauen Mechanikerhosen, die auf der Gasse vollkommen unauffällig gewesen wäre und die ihre Aura einzig und allein aus Zeitungsmeldungen bezog:
Dieser Mann war es, der über das Meer geflogen war; der dafür das immense Preisgeld von 1000 Pfund eingeheimst hatte; in dessen Flugzeugwerkstatt innerhalb weniger Wochen mehr als hundert Bestellungen eingegangen waren. Und der jetzt vor Tausenden von Augenpaaren seine berühmte Maschine aus dem Hangar zog, eine "Blériot XI", wie die Fachwelt wusste, das unscheinbarste Flugzeug auf dem Feld, das geradezu filigran wirkte neben den Voisin-Doppeldeckern, die hier ebenfalls vertreten waren. Alle, die keinen Platz auf den Tribünen hatten - und dazu zählten auch Kafka und seine Begleiter -, stümten jetzt nach vorn an den Begrenzungszaun und kletterten auf die dort umherstehenden Strohstühle, um schon während des Anlaufs eine bessere Sicht zu haben. Er habe gezittert, schreibt Brod, als man die Steine vor den Rädern des Apparats weggeräumt habe, doch am Ende sei er begeistert gewesen wie alle.
Ganz anders, beinahe ehrfürchtig, die Stimme Kafkas:
"Nun aber kommt der Apparat, mit dem Blériot den Kanal überflogen hat; keiner hat es gesagt, alle wissen es. Eine lange Pause und Blériot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie. Die Sonne hat sich geneigt und unter dem Baldachin der Tribünen durch beleuchtet sie die schwebenden Flügel. Hingegeben sehn alle zu ihm auf, in keinem Herzen ist für einen andern Platz. Er fliegt eine kleine Runde und zeigt sich dann fast senkrecht über uns. Und alles sieht mit gerecktem Hals, wie der Monoplan schwankt, von Blériot gepackt wird und sogar steigt. Was geschieht denn? Hier oben ist 20 M (eter) über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gege eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehen unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu."
Während es Brod erscheint, als werde der Pilot "emporgetragen von dem wachsenden Murmeln der Tausende, das sich verstärkt, von unsrer plötzlich ausbrechenden Begeisterung", dreht Kafka im letzten Satz die Perspektive um und blickt mit den Augen Blériots hinab in eine passive Menge, die auf das Ereignis nicht den geringsten Einfluss hat und die darum "wesenlos" bleibt. Kafka ist realistischer, er berichtet filmisch, wie mit bewegter Kamera, und zum ersten Mal deutet sich an - gewiss ohne dass er das beabsichtigt oder an große Literatur auch nur gedacht hat -, dass er auf dem Weg zu einer neuen Art des Erzählens ist. Gegen Ende seines Lebens wird er von einer "höheren Art der Beobachtung" sprechen, die er als das Ideal seines Schreibens definiert. Nicht in der BESCHREIBUNG EINES KAMPFES, sondern in Brescia tat er die ersten Schritte.
(Tagebuch, 27. Januar 1922 / T892)
Reiner Stach, Kafka: Die frühen Jahre, S. 433-434.