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Sprachen und Schriftsysteme

Der derzeitige Forschungsstand erlaubt es nicht, durch Spra­chen und Schriften genaue Aussagen über ethnische Zugehö­rigkeiten der Bewohner des Tarim-Beckens, geschweige denn genauere Lokalisierung oder gar Quantifizierung zu machen. Da wir in einer frühhistorischen Zeit, aber spätestens aus den Jahrhunderten um und nach Christi Geburt Handschriftenfunde in verschiedensten indogermanischen Sprachen, hier die verschiedenen Schriftsysteme einmal gar nicht berücksichtigt, im Tarim-Becken vorfinden, können wir mit Sicherheit für ca. das 1.-10. Jh. n. Chr. sagen, dass verschiedenste Idiome dort vertreten waren:

Sakisch/Hotansakisch als ostmitteliranische Sprache, Gand­hari als frühe indische/indogermanische Sprache, Sanskrit ebenfalls als indogermanische Sprache, Parthisch und Sog­disch, ebenfalls als Mitteliranisch zu klassifizieren, Tocharisch in zwei Varianten als Sprache des Kentum-Zweiges der in­dogermanischen Sprachfamilie, Chinesisch spätestens seit der Ost-Han-Dynastie im 1. Jh. n. Chr.

 

Papierfragment mit Harosthi-Schrift (Kat.-Nr. 157); ibid., S. 61.
Papierfragment mit Harosthi-Schrift (Kat.-Nr. 157); ibid., S. 61.

Später kommen Turksprachen, wie Alttürkisch und Uigurisch, hinzu; im 8./9. Jh. auch  das Tibetische als Vertreter der tibeto-burmesischen Sprachfamilie. Angehörige dieser Sprachfami­lie, die diese dann auch noch verschriftlichen, müssen folglich im Tarim-Becken spätestens seit dem 1. Jh. n. Chr. vertreten gewesen sein. Dabei ist nicht anzunehmen, dass diese Stämme plötzlich im Tarim-Becken vorhanden waren; es muss auf je­den Fall eine Völkerwanderung stattgefunden haben.

Durch die trockenen Klimaverhältnisse sind die Leichen teilweise so gut erhalten, dass man die Verstorbenen zumindest ihrem Aussehen nach teilweise ethnisch zuordnen kann. Damit ist aber nicht zwingend verbunden, dass z. B. ein groß gewachsener Mann mit blonden oder rötlichen Haaren Sprecher einer z. B. mitteliranischen oder aber der tocharischen Sprachfamilie gewesen sein muss. Häufig finden wir auch im gesamten zentralasiatischen Gebiet das Phänomen vor, dass eine dünne, zahlenmäßig geringe politische Führungsriege sich über die Mehrheit einer Bevölkerung legt, die zuvor und auch weiterhin eine ganz andere Sprache im Alltag verwendet. Dieses gilt bzw. galt mit einiger Sicherheit zum Beispiel während der Herrschaftszeit der Hephtaliten im 5. bis 6. Jh. n. Chr. Hierbei muss dann damit gerechnet werden, dass an einem solchen Herrschaftssitz noch eine weitere Kanzlei- oder Verwaltungssprache verwendet wurde. Parallel kann sogar noch eine Sakralsprache zwecks Missionierung und Ausübung einer wie auch immer gearteten Religion am Hofe vertreten gewesen sein. Mehrsprachigkeit einer politischen Oberschicht, aber auch unter Vertretern der verschiedenen Religionsströmungen und unter den vielen zum Teil an Orten fest ansässigen Fernhändlern, Künstlern und durchziehenden Nomaden dürfte nicht selten gewesen sein.

Fragment eines gelben langärmeligen Oberteils (Kat.-Nr. 113); ibid., S. 60.
Fragment eines gelben langärmeligen Oberteils (Kat.-Nr. 113); ibid., S. 60.

Sind wir in frühhistorischer Zeit nicht nur durch die auf uns gekommenen Handschriften, sondern zum Beispiel auch durch chinesische Berichte zur Situation in einzelnen Oasen in der Lage, etwas über die Sprache, Schrift und die Lebenssituationen der Menschen dort zu erfahren, was sich möglicherweise mit dem aechäologischen Fundbild deckt, so ist man bei der Rekonstruktion der Vergangenheit auf einigermaßen sicherem Terrain. Je weiter man aber in "dunklere" Zeiten zurückgehen muss, desto unsicherer wird das Bild. So reichen wohlhabend ausgestattete und ärmere Grabführungen und Beigaben einer Zeitstufe bestenfalls dazu aus, eine eingermaßen differenzierte Gesellschaftsordnung anzunehmen. Wie genau dann eine solche Gesellschaft strukturiert war, ist damit noch nicht gesagt. Wissen wir zum Beispiel für die späte europäische Eisenzeit Mitteleuropas, dass es neben Kelten und Germanen noch Völker gegeben haben muss, die sich weitestgehend unserem Blick entziehen, so muss dies in noch größerem Maße für das zentralasiatische Gebiet und auch für das Tarim-Becken gelten. Es bleibt auch unklar, woher Völkerschaften, die auch kleinere Gruppen gewesen sein können, zugewandert waren und ob sie weiterhin - siedelnd oder aber nomadisch oder halbnoma­disch lebend - Kontakte in ihre Herkunftsregion pflegten. Vor allem bei reiternomadischen Stämmen und Völker­schaften ist es ein Phänomen, dass diese sehr häufig nur durch ihre Gräber, zumal die ihrer politischen Herr­schaftsspitzen, archäologisch für uns fassbar werden. Selten sind zusätzlich ihre Siedlungen greifbar, was vor allem daran liegt, dass die Gruppen über den größten Teil des Jahres in Zelten lebten; diese hinterlassen kaum archäologische Spuren.

Die Vielzahl von Sprachen, Schriften, Kulturen, un­terschiedlichen Quellen und der Mangel an gehaltvol­len Informationen erschweren bislang die exakte Zu­ordnung der bronzezeitlichen bis Han-zeitlichen Funde aus Xinjiang. Wir haben bisher kaum Kenntnis darüber, wer diese Menschen waren, deren Grabbeigaben uns trotz der großen zeitlichen Distanz wegen ihres hervor­ragenden Erhaltungszustandes mit ihrer Präsenz beein­drucken.

(ibid., S. 60-61)

Konrat Theiss Verlag