museo-on

Direkt springen zu:
Sprache: German | English
Banner_China a
Hauptnavigation:

CHIRON

Mitteilungen der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts

Aus dem Inhalt

WERNER ECK

Befund und Realität. Zur Repräsentativität unserer epigraphischen Quellen in der römischen Kaiserzeit

Welche Realität begegnet uns in den epigraphischen Quellen, speziell in den lateini­schen (und griechischen) Inschriften der römischen Zeit? Die Frage stellt sich des­wegen in besonderer Weise, weil nicht selten sehr widersprüchliche Aussagen zu die­ser fundamentalen Frage geäußert werden. Dabei ist von vornherein klar, dass es keine schlichte, einfache Antwort geben kann. Doch Hinweise, die das Problem deutlich machen und eine Grundtendenz festhalten, können gegeben werden. Dies soll das Ziel dieses Beitrags sein.

Dass niemals die gesamte Realität römischen Lebens und Handelns in epigraphi­sche Dokumente eingegangen ist, ist selbstverständlich und unstrittig. Denn die epi­graphische Dokumentation kennt Anfänge, Höhepunkte und einen deutlichen Rück­gang in bestimmten Zeiten, also Epochen, für die Inschriften eine entscheidende Rolle spielen und andere, in denen sie allein wegen ihrer geringen Zahl nur eine marginale Bedeutung haben. Da das 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. die Zeit mit der intensivsten inschriftlichen Information ist, in der diese auch die größte Rolle bei der Wieder­gewinnung der Vergangenheit spielt, wird diese Epoche bei den nachfolgenden Aus­führungen zur Repräsentativität der epigraphischen Quellen im Mittelpunkt stehen. Für andere Zeitabschnitte haben wir dagegen wenige, oft auch gar keine inschrift­lichen Zeugnisse. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Dort tritt uns, soweit Inschrif­ten überhaupt vorhanden sind, schon unter diesem Gesichtspunkt nur eine sehr ein­geschränkte Realität entgegen.

Auch der geographische Raum ist von Belang, schon allein deswegen, weil manche Regionen die epigraphische Kultur wenig kannten oder - um es vorsichtiger zu for­mulieren - gekannt zu haben scheinen. Rom und Italien stellen sich anders dar als etwa Britannien oder die Belgica, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das gilt bereits für die Zahl der epigraphischen Texte, noch mehr jedoch für die spezifischen Formen und insbesondere den Inhalt der Texte. Ein Beispiel mag genügen: Die inschriftliche Über­lieferung für Statthalter ist in bestimmten Provinzen äußerst unterschiedlich. Man muss nur die Provinzen Asia und Narbonensis miteinander vergleichen, die beide von Prokonsuln, freilich differierenden Ranges, geleitet wurden. Die Dokumentation ist eine wesentlich verschiedene, vor allem quantitativ, aber auch unter dem Gesichts­punkt dessen, was uns vermittelt wird. Gleiches gilt etwa bei einem Vergleich der Zeugnisse für die Statthalter in der Tarraconensis und in Aquitanien, die jeweils von legati Augusti pro praetore geleitet wurden. Der Statthalter der Tarraconensis hatte konsularen Rang, der der Aquitania prätorischen. Doch nicht diese Differenz hat zu der ganz unterschiedlichen Dokumentation in den epigraphischen Quellen geführt; denn der offizielle Rang des prätorischen Statthalters von Aquitania unterscheidet sich z. B. nicht von dem des Legaten der legio III Augusta in Nordafrika; und doch sind Masse und Qualität der Quellen für diesen ungleich umfangreicher und inhaltlich rei­cher als für den Legaten der Aquitania. Die Überlieferung für die römische Reichs­administration ist somit nicht allein und in nicht wenigen Fällen überhaupt nicht von der hierarchischen Stellung des Amtsträgers abhängig, sondern in großem Maß durch die jeweilige Ausformung der epigraphischen Kultur in den einzelnen Provin­zen bedingt.

Was in die epigraphische Überlieferung eingehen konnte, hing freilich auch nicht wenig von der Stellung der Einzelperson in der jeweiligen Gesellschaft ab. Denn der Sozialstatus war ein entscheidender Faktor dabei, ob eine einzelne Person oder sogar ganze Personengruppen überhaupt in eine epigraphische Dokumentation eingegan­gen sind. Im Allgemeinen gilt, dass die Intensität der inschriftlichen Dokumentation mit dem Rang in der sozialen Hierarchie korrespondiert. Es ist natürlich kein Zufall, dass Senatoren stärker vertreten sind als Ritter, und diese weit mehr als die durchschnittlichen Angehörigen des  ordo decurionum einer Stadt. Freigelassene und Sklaven dagegen erscheinen in umgekehrter Proportionalität zu ihrem nummerischen Gewicht in unserer Dokumentation. Freilich: dieser Zusammenhang  gilt nicht immer, wie unten gezeigt werden wird.

Die Frage, ob bestimmte Phänomene jemals eine inschriftliche Dokumentation erhalten halten haben, ist somit wichtig.  Denn nur, was einmal auf diese Weise dokumentiert war, konnte auch einen Reflex in unserer Überlieferung himterlassen. Doch ist damit sogleich auch die weitere und in unserem Zusammenhang vielleicht noch wichtigere Frage verbunden, ob diese Reflexe, die wir erfassen können, auch repräsentativ sind für die einstmals vorhandenen Inschriften. Können wir also darauf vertrauen, dass die heute noch vorhandenen Inschriften, unabhängig von der  Gesamtrealität der damaligen Welt und deren Dokumentation im epigraphischen Medium, wenigstens die einstige epigraphische Realität widerspiegeln?  Oder müssen wir nicht vielmehr in vielen Fällen danach fragen, ob das, was uns heute noch zur Verfügung steht, durch äußere Faktoren verfälscht ist, unter Umständen so sehr, dass dadurch unsere Dokumentation in die Irre führt, wenn man den Defekt nicht erkennt und ihn zu korrgieren sucht? (...)

(ebd., S. 49-51)

 

Walter de Gruyter