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Am Falschen Ort

Autobiographie

"AM FALSCHEN ORT

ist die Geschichte eines oft schmerzhaften Heranwachsens zwischen mehreren Kulturen, beschrieben mit wunderbarer Leichtigkeit und schonungsloser offenheit. All jene unter uns, deren Leben sich auf zwei Kulturen verteilt und die dieses Schicksal zugleich als Geschenk und Verlust wahrgenommen haben, werden dankbar sein, dass Said dieser Erfahrung einen so authentischen Ausdruck gegeben hat - sowohl den damit verbundenen Qualen und Verwirrungen, als auch den Freiheiten und Möglichkeiten. Man erhält einen unvergesslichen Eindruck davon, was es in den vergangenen fünfzig Jahren bedeutet hat, ein Palästinenser zu sein."

Ein bewegendes Zeugnis intensiver Erinnerungsarbeit ...

So euphorisch urteilt Salman Rushdie über die Kindheits- und Jugendmemoiren Edward Saids, der 1935 in Jerusalem geboren wurde, einen großen Teil seiner Kindheit jedoch in Kairo und im Libanon verbrachte. AM FALSCHEN ORT ist ein bewegendes Zeugnis intensiver Erinnerungsarbeit, einer Art emotionaler archäologischer Expedition - zurück in eine unwiderbringlich vergangene Welt: denn Palästina ist heute Israel, der Libanon nach zwanzig Jahren Bürgerkrieg vollkommen verändert, und das koloniale, monarchistische Ägypten seit 1952 verschwunden.

Eine Geschichte von Brüchen und Neuanfängen

AM FALSCHEN ORT ist die Erinnerung an Verlust und Exil, eine Geschichte von Brüchen und Neuanfängen, und zudem die triumphierende Schilderung einer Identitätsfindung. Einer Identität, die sich aus vielen Quellen spist und sich ihrer brüchigkeit durchaus bewusst ist. Edward Said fügt in AM FALSCHEN ORT sprachlich virtuos und mit großer emotionaler Kraft die zwei disparaten Hälften seiner Kindheits- und Jugenderfahrung zusammen. Hier nimmt sein heutiges Dasein als Amerikaner und Araber seinen Anfang sowie auch seine Existenz als intellektueller und prominenter Fürsprecher eines zum Schweigen verurteilten Volkes - der Palästinenser.
Eine Wochenendfahrt zu den Barrages-Gärten, die nördlich von Kairo im Delta nahe dem gleichnamigen Staudamm lagen, gemeinsam mit der Familie meiner Mutter, den Musas, im Jahr 1939. Im Uhrzeigersinn von unten links: Rosy, Shukri Musa, Latifeh mit Marwan im Arm, ihr Ehemann Munir, Hilda, Albert, Robert, ich und Wadie.
Eine Wochenendfahrt zu den Barrages-Gärten, die nördlich von Kairo im Delta nahe dem gleichnamigen Staudamm lagen, gemeinsam mit der Familie meiner Mutter, den Musas, im Jahr 1939. Im Uhrzeigersinn von unten links: Rosy, Shukri Musa, Latifeh mit Marwan im Arm, ihr Ehemann Munir, Hilda, Albert, Robert, ich und Wadie.

"AM FALSCHEN ORT" IST DER BERICHT

über eine im Wesentlichen verlorene oder vergessene Welt. Vor einigen Jah­ren wurde mir eine offenbar tödliche Diagnose gestellt, und so erschien es mir wichtig, einen subjektiven Bericht meines Le­bens zu hinterlassen, das sich sowohl in der arabischen Welt abspielte, in der ich geboren wurde und meine prägenden Jahre verbrachte, als auch in den Vereinigten Staaten, wo ich zur Schule ging und College und Universität besuchte. Etliche der Orte und Menschen, an die ich mich hier erinnere, gibt es nicht mehr. Allerdings war ich oft erstaunt, wie viel von ihnen ich in häufig winzigen, wenn auch verblüffend konkreten De­tails noch in mir trug.

Meine Erinnerung erwies sich als entscheidend wichtig, um in angsterfüllten Phasen entkräftender Krankheit und Thera­pie überhaupt arbeitsfähig bleiben zu können. Fast jeden Tag, auch wenn ich an anderen Texten schrieb, verschaffte mir das Stelldichein mit diesem Manuskript eine Ordnung und eine Disziplin, die angenehm und fordernd zugleich war. Meine an­deren Schriften und meine Lehrverpflichtungen schienen mich weit von den verschiedenen Welten und Erfahrungen dieses Buches fortzutragen: Offensichtlich funktioniert die Erinne­rung eines Menschen besser und freier, wenn sie nicht durch besondere, diesem Zweck dienende Mittel oder Tätigkeiten an­geregt wird. Dennoch sind in diese Erinnerungen mit Sicher­heit und mehr oder weniger unbemerkt auch meine politischen Schriften zur Situation der Palästinenser eingegangen, ebenso wie meine Studien zum Verhältnis von Politik und Ästhetik, insbesondere zu Oper und Prosa, und meine Faszination für das Thema eines Buches über »späte Schaffensperioden« (be­ginnend mit Beethoven und Adorno).

Ein Schnappschuss der Familien said und Mansour, die Vettern zweiten Grades meines Vaters. Er zeigt uns alle ein letztes Mal beisammen, bevor wir uns un alle Himmelsrichtungen verstreuten; im Hause Mansour, etwa 1946/47.
Ein Schnappschuss der Familien said und Mansour, die Vettern zweiten Grades meines Vaters. Er zeigt uns alle ein letztes Mal beisammen, bevor wir uns un alle Himmelsrichtungen verstreuten; im Hause Mansour, etwa 1946/47.
Nach der Fertigstellung des Manuskripts reiste ich im No­vember 1998 nach Jerusalem und dann nach Kairo. In Jerusa­lem hielt ich mich auf, während ich an einer Konferenz über »palästinensische Landschaft« in Bir Zeit teilnahm, und nach Ägypten fuhr ich, um dabei zu sein, wie einer meiner begabtes­ten Studenten, der an der Universität von Tanta, achtzig Kilo­meter nördlich von Kairo, lehrt, seine Doktorarbeit verteidigte. Wieder einmal stellte ich fest, dass das einstige Netz aus Städ­ten und Dörfern, in denen alle Angehörigen meiner erweiter­ten Familie gelebt hatten, nun zu einer Reihe israelischer Ört­lichkeiten geworden war - Jerusalem, Haifa, Tiberias, Nazareth und Akkon -, in denen die palästinensische Minderheit unter israelischer Herrschaft lebt. In Teilen der Westbank und in Gaza besaßen Palästinenser die Selbstverwaltung oder Auto­nomie, aber die israelische Armee wachte weiterhin überall über die Sicherheit, nirgends deutlicher als an Grenzen, Kon­trollpunkten und Flughäfen. Eine der Routinefragen israe­lischer Beamter (denn mein US-Pass enthielt die Angabe, dass ich in Jerusalem geboren sei) lautete, wann genau nach meiner Geburt ich Israel verlassen hätte. Ich antwortete, ich hätte Pa­lästina im Dezember 1947 verlassen; dabei betonte ich das Wort Palästina. »Haben Sie irgendwelche Verwandte hier?«, hieß die nächste Frage, worauf ich antwortete: »Niemanden«, und das löste bei mir ein Gefühl der Trauer und des Verlustes aus, wie ich es so nicht erwartet hatte. Denn zu Beginn des Frühlings 1948 war meine gesamte erweiterte Familie aus dieser Gegend vertrieben worden und hat seither immer im Exil ge­lebt. 1992 konnte ich jedoch zum ersten Mal seit unserer Ab­reise im Jahr 1947 das Haus der Familie in Westjerusalem be­suchen, in dem ich geboren wurde, sowie das Haus in Nazareth, in dem meine Mutter aufwuchs, und das Haus meines Onkels in Zefat und so weiter. Alle waren jetzt von anderen  Menschen bewohnt, und das machte es aus schrecklich hemmenden und nicht genauer zu bestimmenden emotionalen Gründen sehr schwer und praktisch  unmöglich, diese Häuser noch einmal zu betreten, und sei es auch nur für einen flüchtigen Blick.
Während meines Aufenthalts in Kairo im November 1998 besuchte ich unsere alten Nachbarn Nadia und Huda und ihre Mutter, Mrs. Gindy, die lange Jahre drei Stockwerke unter uns gelebt hatten, im zweiten Stock der  Sharia Aziz Osman Nr. 1. Sie erzählten mir, Nr. 20, unsere alte Wohnung, stehe leer und solle verkauft werden. Nachdem ich einen Augenblick lang überlegt hatte, sie zu kaufen, verspürte ich jedoch keine Begeisterung, einen Ort zurückzugewinnen, den wir vor fast vierzig Jahren verlassen hatten. Einen Augenblick später sagten Nadia und Huda, vor dem Mittagessen warte noch jemand auf mich in der Küche. Würde ich ihn  sehen wollen ? Ein kleiner drahtiger Mann im dunklen Festtagsgewand (samt Turban) eines oberägyptischen Bauern betrat das Zimmer. Als er von den beiden Frauen erfuhr, dies sei der Edward, auf den er so geduldig gewartet habe, wich er zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, Edward war groß und trug eine Brille. Dies ist nicht Edward.« Ich hatte sogleich Ahmad Hamed erkannt, der fast dreißig Jahre lang unser sufragi (Diener) gewesen war, ein ironischer, geradezu fanatisch ehrlicher und loyaler Mann, den wir alle als Familienmitglied betrachtet hatten. Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, dass ich es wirklich war und nach achtunddreißigjähriger Abwesenheit lediglich durch Krankheit und Alter verändert sei. Plötzlich fielen wir uns in die Arme und weinten über das Glück der Wiederbegegnung und aus Trauer über die unwiederbringliche Zeit.
Wie meine Schwester Rosy trage ich ein traditionelles palästinensisches Gewand; Jerusalem 1941.
Wie meine Schwester Rosy trage ich ein traditionelles palästinensisches Gewand; Jerusalem 1941.

Er sprach darüber, wie er mich auf den Schultern getragen hatte, wie wir in der Küche geschwatzt hatten, wie die Familie Weihnachten  und Neujahr gefeiert hatte und so fort. Ich war erstaunt, dass Ahmad sich nicht nur genau an uns sieben erinnerte - Eltern und fünf Kinder -, sondern auch in jede einzelne meiner Tanten, an Onkel, Kusinen und meine Großmutter, sowie an einige Freunde der Familie. Und als so die Vergangenheit aus ihm  herausströmte, einem alten Mann, der seinen Lebensabend in der entlegenen Stadt Edfu in der Nähe von Assuan verbrachte, wusste ich wieder, wie zerbrechlich, kostbar und vergänglich die Geschichte und Umstände waren, die nun nicht nur für immer vergangen, sondern auch im Wesentlichen vergessen und unaufgezeichnet geblieben waren, außer in gelegentlichem Einnern oder beiläufiger Unterhaltung.

Diese zufällige Begegnung vermittelte mir noch nachdrücklich das Gefühl, dass dieses Buch als inoffizieller persönlicher  Bericht über diese turbulenten Jahre im Nahen Osten  einen gewissen Wert besitzt. Ich berichte darin so viel als nur möglich von meinem Leben zu jener Zeit, hauptsächlich  aus den Jahren von meinem Geburtsjahr 1933 bis ins Jahr 1962,  kurz vor Abschluss meiner Dissertation. Diese Geschichte meines Lebens spielt vor dein Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, des Verlustes Palästinas und der Gründung Israels, des Endes der ägyptischen Monarchie, der Nasser-Jahre, des Kriegs von 1967, der Entstehung der palästinensischen Bewegung,  des libanesischen Bürgerkriegs und des Friedensprozesses von Oslo. In meiner Erinnerung spielt all das nur eine indirekte Rolle, auch wenn es hier und dort flüchtig aufscheint.

Interessanter für mich als Autor war das Gefühl, das ich immer empfand, wenn ich Erfahrungen zu vermitteln suchte, die  ich nicht nur in einer fernen Umgebung, sondern auch in einer  anderen Sprache gemacht hatte. Jeder lebt sein Leben in einer  vorgegebenen Sprache; alle Erfahrungen werden daher in dieser Sprache erlebt und erinnert.

Der grundlegende Riss in meinem Leben verlief zwischen dem Arabischen, meiner Geburtsspra­che, und dem Englischen, der Sprache meiner Ausbildung und späteren Arbeit als Wissenschaftler und Lehrer. Deshalb war es nicht leicht, den Bericht über das eine in der Sprache des anderen zu erstellen - ganz zu schweigen von den zahllosen Weisen, in denen sich die Sprachen für mich vermischten und in einzelnen Bereichen überschnitten. So war es etwa schwie­rig, auf Englisch die tatsächlichen Unterschiede (wie auch die reichen Assoziationen) zu erläutern, in denen das Arabische zum Beispiel zwischen Onkel väterlicher- und mütterlicher­seits unterscheidet; da solche Nuancen in meinem frühen Leben aber eine eindeutige Rolle spielten, musste ich auch ver­suchen, sie hier wiederzugeben.

Neben der Sprache liegt im Kern meiner Erinnerungen an diese frühen Jahre die Geographie - vor allem in der entfrem­deten Form von Abreisen, Ankünften, Abschieden, Exil, Heimweh, Nostalgie, Zugehörigkeit und des Reisens selbst. Jeder der Orte, an denen ich lebte - Jerusalem, Kairo, der Li­banon, die Vereinigten Staaten -, war von einem komplizier­ten, dichten Geflecht von Wertigkeiten geprägt, das mich in besonderer Weise in meinem Heranwachsen begleitete, in der Identitätsfindung, in dem Bemühen, ein Bewusstsein von mir selbst und anderen herauszubilden. Stets nehmen in dieser Ge­schichte die Schulen einen herausragenden Platz ein - Mikrokosmen der Städte, in denen meine Eltern diese Schulen für mich fanden. Da ich selbst unterrichte, war es nur natürlich, dass ich das ganze Umfeld der Schulen einer besonderen Dar­stellung für wert hielt, obwohl ich gar nicht damit gerechnet hatte, wie genau ich mich an die ersten von mir besuchten Einrichtungen  erinnerte, und ebenso natürlich war es, dass die Freunde und Bekannten aus jener Zeit in stärkerem Maße zu einem Teil meines Lebens geworden sind als diejenigen aus meinen Universitätstagen oder Internatsjahren in den Vereinigten Staaten.

Eines der Dinge, die ich implizit zu erforschen suchte, ist der Einfluss, den diese sehr frühen Schulerfahrungen auf mich ausübten, die Frage, warum ihr Einfluss anhält und warum sie mir noch heute so faszinierend und interessant erscheinen,  dass ich sie fünfzig Jahre später den Lesern vorstelle.

Der Hauptgrund jedoch für diese Erinnerungen liegt natürlich in dem Bedürfnis, die schiere zeitliche und räumliche Distanz zwischen meinem heutigen und meinem damaligen Leben  zu überwinden. Ich erwähne das hier nur als offensichtliche  Tatsache, nicht um mich darüber auszulassen oder es zu diskutieren. Ich stelle lediglich fest, dass eines der Ergebnisse davon eine gewisse Distanz und Ironie in Haltung und Tonfall ist, wenn ich versuche eine entlegene Zeit und Erfahrung zu  rekonstruieren. Mehrere der hier beschriebenen Personen sind noch am Leben und werden meinen Porträts  von ihnen und anderen wahrscheinlich weder zustimmen noch sie billigen. Sowenig ich den Wunsch hege, die Gefühle anderer zu verletzen - meine wichtigste Aufgabe bestand nicht darin, nett zu sein, sondern meine vielleicht eigenartigen Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle wahrhaft wiederzugeben. Ich und nur ich bin verantwortlich für das, was ich sehe und woran ich  mich erinnere, kein Individuum in der Vergangenheit, das nicht  wissen konnte, welche Wirkung es womöglich auf mich hat. Und schließlich wird hoffentlich auch deutlich, dass ich bewusst mir selbst weder als Erzähler noch als dargestellter Charakter ebendiese Ironien oder peinlichen Erinnerungen erspart habe.

(ebd., Vorwort, S. 5-10)

 

Berlin Verlag

Said, Edward W.: Am Falschen Ort. Autobiographie.  Aus dem Englischen von Meinhard Blüning. Berlin: Berlin Verlag 2000.
Said, Edward W.: Am Falschen Ort. Autobiographie. Aus dem Englischen von Meinhard Blüning. Berlin: Berlin Verlag 2000.